© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

„Mal für drei Tage ins Krankenhaus schicken“
Längst überfällig: Julia von Heinz’ Film „Und morgen die ganze Welt“ porträtiert die gewaltbereite Linke
Dietmar Mehrens

Die erste Szene des Films zeigt eine junge Frau, die die Flinte ins Korn wirft. Das ist in diesem Fall sogar fast wörtlich zu verstehen. Erst später wird der Zuschauer die näheren Umstände der wegwerfenden Handbewegung erfahren. Wird erfahren, daß die junge Frau mit der Flinte, Luisa, einen rechtsradikalen Pöbler im Visier hatte.

Doch dann sind ihr augenscheinlich die Parallelen ihres eigenen faschistoiden Verhaltens zu dem der Männer, auf die sie die Waffe angelegt hatte, bewußt geworden. Will Luisa Staatsfeinde bekämpfen oder ist sie selbst einer? Will sie letzten Endes, genau wie ihre Widersacher, vor allem Teil einer Bewegung sein, die ihre Ideologie morgen der ganzen Welt aufzwingen kann? „Der Film läßt uns durch Luisa selbst auf eine Suche nach unseren politischen Antworten gehen“, sagt Mala Emde, die Darstellerin der 20jährigen Studentin.

Attacken auf eine migrationskritische Partei

Man kann nicht behaupten, daß Regisseurin Julia von Heinz die linksextreme Szene, die sie selbst durch jahrelanges Engagement kennt wie ihre eigene Ohrringkollektion, schonend behandelt. Schon der Vorname, den sie ihrer Heldin gegeben hat und der rein zufällig dem der bekanntesten deutschen FfF-Aktivistin gleicht, wird manchen schlucken lassen. Zumal Luisas politischer Werdegang verwechselbar erscheint mit dem so vieler realer Luisas: Über Schüler-Antifa und Flüchtlingshilfe ist sie in der örtlichen Antifa-Gruppe gelandet, die sich in einem illegal besetzten Haus breitgemacht hat, und buhlt um Aufnahme. „Toll, daß du Jura studierst“, kommentiert ein Führungskader ihre Bewerbung, „dann kannst du in die Gruppe gehen, die das Ganze hier legalisieren soll.“

Von Heinz zeigt den linken Untergrund gnadenlos als ekelerregenden Sumpf aus Drogen, Promiskuität und mangelhafter Hygiene, als anarchischen Haufen, zusammengehalten von Klassenkampfparolen und grenzenloser Selbstgerechtigkeit. Sie demaskiert Selbstdarsteller in der Tradition Andreas Baaders, hemmungslose Hedonisten à la Danton und opportunistische Mitläufer, wie sie jede radikale Bewegung kennt. „Wie ehrlich ist überhaupt so ein politisches Engagement?“ fragt von Heinz und stellt klar: „Im Film geht es um Menschen und ihre Gefühle, die zu bestimmten Handlungen führen.“ Ein Satz, den man so auch über den ARD-Dreiteiler „Mitten in Deutschland: NSU“ (2016) sagen könnte.

Nachdem Luisa sich bei einer Torten- und Farbbeutel-Attacke auf eine migrationskritische Partei mit blau unterlegten Plakaten – hier heißt sie „Liste 14“ –, wacker geschlagen hat, fällt ihr das Mobiltelefon einer Sicherheitskraft in die Hände. Darin: lauter brisante Kontaktdaten der rechten Szene. Ein gefundenes Fressen für all diejenigen, die schon länger davon träumen, den Rechten mal so richtig einzuheizen. Ihr Lautsprecher ist Alfa (Noah Saavedra). Der attraktive Heißsporn heißt nicht nur so, er ist auch ein echtes Alpha-Männchen und hat nach eigenem Bekunden „kein Problem damit, so’n Typen mal für drei Tage ins Krankenhaus zu schicken“. 

„Freie Liebe und abends Plenum!“ Luisas Vater nimmt die neue Existenz seiner Tochter in der Kommune mit Humor. Er und seine Frau haben keine Ahnung davon, wie tief sie in den kriminellen Sumpf eingesackt ist. Nach einer wilden Partynacht – visuelle Erklärung für den neuen Linksextremisten-Euphemismus „Party- und Eventszene“ – steht die lebenslustige Jurastudentin auf der Straße in einer Pfütze mit Erbrochenem. Besser als mit diesem symbolträchtigen Bild kann man eigentlich einen Lebensweg mit Einmündung in die Antifa nicht illustrieren.

Als Provokation aufzufassen ist auch die Konstellation einer Frau, Luisa, zwischen zwei jungen Männern, Alfa und Lenor, die sie beide begehren. Wer würde da nicht sofort denken an Beate Zschäpe und ihre beiden Uwes? Zumal sich Luisa, wie es auch der NSU-Mittäterin unterstellt wurde, zu einer kleinen Lady Macbeth mausert, die ihre Verehrer zu radikaleren Taten anstachelt.

Wenn der Kampfruf „Wir machen die Autos platt!“ durch den Kinosaal gellt, verschwimmen Fiktion und Wirklichkeit: Die Anzahl prominenter AfD-Politiker, deren Autos so in Flammen standen, wie es der Film auf die Leinwand bringt, ist bedrückende und seitens der Medien vielsagend verschwiegene Realität. Die Flügelkämpfe zwischen gewaltbereiten Fundis und friedlichen Realos, die im Film ein Unterthema sind, dürfte es nicht nur in vielen Antifa-Gruppen geben; lange Zeit prägten sie auch die Grünen.

Nach deren Bourgeoisierung finden sie vor allem im Dunstkreis der ehemaligen PDS statt, deren Verflechtung mit gewaltbereiten Antifa-Gruppen ebenso bekannt ist wie der Skandal, daß Kreise von SPD/Jusos und Grünen sich im Rahmen von Unterstützungskampagnen immer wieder vor den Antifa-Karren spannen lassen. In Gestalt der Anwältin Anni, die mit kommunistischen Kampfparolen zur Gegenoffensive blasen läßt, entlarvt Julia von Heinz solche Verbindungen.

Den äußersten Tabubruch scheut die Regisseurin

In der Mitte des Films fällt ein Satz, der sich als Moral von der Geschicht’ aufdrängt, die uns die ehemalige Klassenkämpferin, mit deutlich mehr Willen zur Authentizität als zur Räuberpistole, hier auftischt: „Wer unter 30 ist und nicht links, hat kein Herz, wer über 30 ist und immer noch links, hat keinen Verstand.“ Zu einem Leitmotiv ihres Films hat sie den Wortlaut von Artikel 20 des Grundgesetzes gemacht. Die Worte begegnen dem Zuschauer in einem Jura-Seminar, als Einblendung, als Off-Kommentar. Vom „Recht zum Widerstand“ ist darin die Rede – gegen jeden, der die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik zu beseitigen versucht. Berechtigt das aber zu physischen Angriffen auf Parteien, die ihrem Auftrag zur politischen Willensbildung nachkommen?

Den äußersten Tabubruch scheut die Regisseurin. Bei aller Kritik an gefährlichen Fehlleitungen innerhalb der eigenen Referenzgruppe läßt ihr Film diese nie hinter sich und bleibt in selbstreferentieller Reflexion stecken. Viele aus der Antifa-Szene werden den Film daher womöglich gar nicht als Nestbeschmutzung auffassen, sondern sich im wohlwollend porträtierten Lager der Gemäßigten, im Film repräsentiert durch Luisas pazifistische Freundin Batte (Luisa-Céline Gaffron), wiederfinden oder sich gar an der einen oder anderen gelungenen Aktion im moralisch richtigen „Kampf gegen Rechts“ ergötzen.

Selbstkritik sind kommunistische Kader seit jeher gewohnt. Der Versuch, im rechten Lager in der gleichen Weise zu differenzieren zwischen verblendeten Neonazis und legitimen Oppositionellen mit gesitteter Debattenkultur unterbleibt. Schon der Gedanke, im rechten Lager könnte es so etwas wie brave Realos geben, kommt der Regisseurin offenbar auch nach überstandener Linksextremismusinfektion immer noch vor wie Verrat an einer letztlich gerechten Sache. 

„Und morgen die ganze Welt“ ist das sehenswerte Selbstporträt einer Linken mit Distanz zu den Verirrungen von gestern. Versöhnliche Töne jedoch schlägt der im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig gelaufene Film nicht an. Stattdessen setzt er mit der letzten Einstellung ein fettes Ausrufezeichen – und läßt es noch mal ordentlich krachen.