© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Cancel Culture, Identitätspolitik und die Politisierung des Lebens in Amerika
„Befreiung“ bringt Unfreiheit
Todd Huizinga

Überall in den USA gerät die Redefreiheit massiv unter Druck. Ein neuer Begriff dieses Jahres ist „Cancel Culture“, Ausstreichkultur. Die Menschen werden „ausgestrichen“ – öffentlich beschämt, geächtet, mit Arbeitslosigkeit bestraft –, wenn sie auch nur einmal eine Meinung äußern, die in irgendeiner Weise irgend jemand beleidigend finden könnte. Die Beispiele sind unzählig:

Ein Vize-Präsident des Flugzeugherstellers Boeing mußte im Juli zurücktreten, weil er 1987 – also vor 33 Jahren – einen Artikel schrieb, in dem er gegen die Teilnahme von Frauen an militärischen Kampfeinsätzen Stellung bezogen hatte. Im Juni wurde ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler von seinem Posten in der Chicago-Filiale der US-Notenbank entlassen, weil er in einem Tweet die Organisation „Black Lives Matter“ kritisierte wegen deren Aufforderung, der Polizei die Finanzierung zu entziehen. Ein Ressortleiter der New York Times mußte vor kurzem zurücktreten, weil seine Kollegen seine Entscheidung, den Gastkommentar eines konservativen Senators zu veröffentlichen, dessen Meinungen von denen der Journalisten abwichen, unannehmbar fanden. Ein Fernsehmoderator einer Basketball-Mannschaft wurde unlängst wegen eines Tweets gefeuert, der so lautete: „All lives matter ... Every single one!“ („Alle Leben sind wichtig ... Jedes einzelne Leben!“) Anscheinend wurde das als eine Kritik an „Black Lives Matter“ aufgefaßt, die eine strenge Bestrafung erfordere.

Die neuen „Höflichkeits-

regeln“ der Identitäts- politik sind nicht allein unbekannte, mit der Zeit erlernbare Umgangsformen. Vielmehr sind sie Ausdruck eines politisierten, zutiefst antifreiheitlichen Menschenbilds, das den zwischenmenschlichen Umgang verzerrt.

Was geht hier vor? Wie sollte man diese Entwicklung einordnen? Neulich erschien ein Aufsatz im Feuilleton des Wall Street Journal, der eine unbehagliche Kombination von Scharfsinn und Fehleinschätzung aufwies. Der Autor Adam Kirsch hob hervor, daß der Staat und die Gerichte die in der Verfassung verankerten Freiheiten keineswegs in Frage stellten. In den sommerlangen Protesten hätten die Menschen ihre Versammlungsfreiheit in Anspruch genommen. Während der Wahlkampagne stelle die Presse, links und rechts, ihre Pressefreiheit ohne staatliche Einmischung zur Schau. Warum habe man also allgemein das Gefühl, die Redefreiheit sei in Gefahr?

Punktgenau stellte Kirsch fest, daß die Freiheitskrise in den USA vor allem ein soziales Phänomen ist. Ich würde es so sagen: Die Maßstäbe der gesellschaftlich akzeptablen Rede, die Festlegung der Salonfähigkeit der Rede – besonders vor dem Hintergrund der schroffen Umgangsformen in den sozialen Medien – sind fließend geworden. Es geht um den Versuch, in einer Zeit des unberechenbaren Wandels neue Regeln der politisch-gesellschaftlichen Korrektheit zu behaupten. Im Grunde soll politisch inkorrekte Rede um der Höflichkeit willen verbannt werden. Wie die Opfer der „Cancel Culture“ bezeugen können, spielt hier eine willkürliche Identitätspolitik die Hauptrolle. Vorsicht in der Rede ist vor allem dann geboten, wenn man mit oder über Menschen von bestimmten Gruppen spricht – vornehmlich Angehörige von vermeintlich benachteiligten Gruppen wie zum Beispiel ethnische Minderheiten, Frauen, LGBT-Personen und Menschen, die für sich eine fließende Gender-Identität beanspruchen.

Kirsch hat also recht, daß die Redefreiheitskrise – mindestens momentan – nicht hauptsächlich eine Frage der staatlichen Unterdrückung ist, sondern einen gesellschaftlichen Wandel widerspiegelt. Das heißt aber noch lange nicht, wie er es anklingen läßt, daß die Redefreiheit deshalb weniger in Gefahr wäre, daß es also in einiger Zeit, wenn die neuen Maßstäbe der Salonfähigkeit sich deutlicher abzeichneten, nicht so schwerfallen würde, sich frei, aber korrekt auszudrücken.

Leider ist das Problem viel tiefgehender. Die neuen Höflichkeitsregeln sind nicht allein unbekannte, mit der Zeit erlernbare Umgangsformen. Vielmehr sind sie der Ausdruck eines politisierten, zutiefst antifreiheitlichen Menschenbilds, das den menschlichen Umgang verzerrt, und das sich inzwischen, unbemerkt von den meisten Normalbürgern, bis in die Kommandohöhen unserer meinungsprägenden Institutionen festgesetzt hat: in den Medien, im Film, im Fernsehen und in der Kulturindustrie, an den Universitäten, in der Staatsbürokratie, zum Teil auch in der Geschäftswelt, wo „Diversitätsberater“ die Angestellten im neuen Menschenbild schulen, und somit vorgeben, wie sie zu sprechen und zu denken haben, wenn sie in der jeweiligen Firma weiterkommen wollen.

Dieses Menschenbild ist vor allem stark reduktionistisch. Der Mensch wird einzig durch die Brille von Herrschaft und Unterdrückung verstanden. Alle menschlichen Eigenschaften werden nach ihren vermeintlichen Auswirkungen auf politisch-gesellschaftliche Machtverhältnisse ausgewertet. Diejenigen Eigenschaften, die im Begriffs­schema der Identitätspolitik Herrschaft oder Unterdrückung bezeichnen, werden als die eigentlich wesentlichen eingestuft. Denn in der Gedankenwelt der Identitätspolitik stiften die Merkmale, die einen als entweder privilegiert oder unterdrückt kennzeichnen – hauptsächlich Rasse, Geschlecht, Gender-Identität und Einwanderungsstatus –, die Kern­identität eines Menschen.

Dieses politisierte Menschenbild untermauert eine flächendeckende Politisierung des Lebens, die eine Verarmung der menschlichen Gemeinschaft mit sich bringt. Alle menschlichen Beziehungen werden im Sinne von Herrschaft und Unterdrückung verstanden, das heißt, politisiert und entmenschlicht.

Die Identitätspolitik im geschlechtlichen Bereich reduziert Mann-Frau-Beziehungen auf Herrschaft und Unterdrückung. Im Kern ideologisiert die „#metoo“-Bewegung den Mann als Beutegreifer und die Frau als Opfer und versucht durch Agitprop, das Machtverhältnis umzudrehen. Ein unbelastetes Sich-Kennenlernen wird unmöglich. Das wachsende Gesellschaftsproblem der Einsamkeit verschlimmert sich.

Die Identitätspolitik der ethnischen Zugehörigkeit rassifiziert den menschlichen Umgang und erschwert Freundschaften. Durch die Kategorisierung eines jeden Menschen nach Rasse untergräbt sie die zwischenmenschliche Basis – nämlich das gemeinsame Menschsein – von jeder menschlichen Annäherung.

In jedem Bereich des Lebens wird die „Befreiung“ der „Unterdrückten“ von der Herrschaft zum höchsten Ziel, dem nichts im Wege stehen darf. Nicht nur menschliche Beziehungen, sondern auch möglichst viele menschliche Aktivitäten werden im Hinblick auf das übergeordnete Ziel der Befreiung umfunktioniert. Nur die kirchlichen Gemeinden, die soziale Gerechtigkeit als erste Priorität anerkennen, erleben die Zustimmung der Identity-Politiker. Man kann kaum mehr Sport genießen, ohne irgendeine Mini-Demo der Sportler gegen Ungerechtigkeit erdulden zu müssen. Fernsehfilme werden von Figuren bevölkert, die dem politisch-korrekten Menschenbild entsprechen. In der Oscar­verleihung müssen die Preise proportionsgerecht unter den ethnischen Gruppen sowie unter Männern und Frauen verteilt werden.

All die klassischen Freiheiten, allen voran die Redefreiheit, müssen der Befreiung der vermeintlich Unterdrückten dienen, und zwar in jedem Lebensbereich. Wenn man eine Meinung vertritt, einen Glauben bekennt, ja, sogar Bücher liest, Filme mag oder Musik hört, die die soziale Gerechtigkeit – was auch immer das im jeweiligen Augenblick sein mag – nicht genügend voranstellen, ist man suspekt und läuft Gefahr, zum Schweigen gebracht zu werden.

Es stimmt zwar, daß nur eine schwindende Minderheit dies alles aus Überzeugung bewußt vorantreibt. Aber die Politisierung sickert durch, in jede Ecke hinein. Sie wird zur Hintergrundmusik des Alltags. Man akzeptiert, was um sich herum geschieht, und erhebt die Stimme nicht dagegen, weil man nicht auf Ablehnung stoßen will. Durch schweigendes Nichtstun akzeptiert man, daß andere, die sich irgendwie in den Rachen der politisch Korrekten verirrt haben, angeprangert werden. Mit der Zeit überzeugt man sich stillschweigend, daß es den Denunzierten irgendwie recht geschieht.

Wer eine Meinung vertritt, einen Glauben bekennt, Bücher liest, Filme mag oder Musik hört, die die soziale Gerechtigkeit – was auch immer das jeweils sein mag – nicht genügend voranstellen, ist suspekt und läuft Gefahr, zum Schweigen gebracht zu werden.

Nun zur Präsidentschaftswahl am 3. November: Wenn sich diese unverdiente Dominanz der Identitätspolitik fortsetzt, wird die jetzt noch vornehmlich soziale Einengung der Redefreit früher oder später in eine freiheitsfeindliche Staatspolitik überschwappen. Man sieht es schon häufig in Gerichtsentscheidungen und Gesetzesvorhaben gegen Haßrede oder Diskriminierung, die die Glaubenssätze des traditionellen Christentums implizit als gehässig und diskriminierend umdeuten.

Wenn Joe Biden gewählt wird oder die Demokraten die Mehrheit im Senat wiedergewinnen, wird sich die anti­freiheitliche Verwandlung in der Staatsgewalt beschleunigen. Aus einer Mischung von Selbstschutz, Feigheit und Verwirrung überlassen die Gemäßigten unter den De-

mokraten den Linken immer wieder das Feld. Was Selbstschutz angeht, merken sie die wahnsinnige Wucht der Radikal-Progressiven und versuchen mitzuhalten, indem sie politisch-korrekte Floskeln mitschreien und versprechen, nach den Ansprüchen der Identitätspolitik zu regieren. Was Feigheit angeht, scheint es ihr größter Albtraum zu sein, als rassistisch, homophob oder xenophob gebrandmarkt zu werden, wenn sie nicht inbrünstig genug die politisch-korrekte Linie verfolgen. Die Verwirrung spielt auch eine große Rolle: Irgendwie sind sie schließlich immer diejenigen gewesen, die sich für die soziale Gerechtigkeit stark gemacht haben. Wenn die Identitätspolitik jetzt der Inbegriff des Gerechtigkeitsideals darstellt, müssen sie doch lautstark dabeisein, oder?

Im Gegensatz zu Biden nimmt Trump Stellung für die Freiheit und gegen die Identitätspolitik. Aber im Endeffekt kann kein Politiker, keine Politik die Antwort auf die Krise liefern, vor der wir stehen. Unsere Demokratie lebt von der Einsicht, daß der Mensch wichtiger ist als die Politik. Es ist eine Tatsache, daß uns allen – völlig unabhängig von unserem Geschlecht, unserer ethnischen Zugehörigkeit, von Reichtum oder Armut oder auch politischer Gesinnung – eine unantastbare Würde innewohnt, die wir gegenseitig würdigen müssen. Wenn wir zugunsten der Politisierung unser Menschsein aufopfern, werden wir bald auch unsere Freiheit verlieren.






Todd Huizinga, Jahrgang 1957, war zwanzig Jahre US-Diplomat in Deutschland und Europa, zuletzt in Brüssel. Nach dem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst 2012 arbeitete er als Politikberater. Heute ist er Präsident des Center for Transatlantic Renewal und Senior Fellow für Europa für das Religious Freedom Institute. Jüngste Buchveröffentlichung: „Was Europa von Trump lernen kann“.

Foto: Freiheitsstatue mit der geballten Faust, dem Symbol der „Black Lives Matter“-Bewegung: Über dem „Land der Freien“ braut sich etwas zusammen, das an die Grundfesten geht.