© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Neue Aufmerksamkeit für historische Ausnahmezustände
Schutzhaft für Gefährder
(ob)

Während der langen Zeit grundgesetzlicher „Normalität“ interessierten sich lediglich Carl-Schmitt-Experten noch für das Rechtsinstitut des „Ausnahmezustands“. Das hat sich spätestens geändert, seit nun auf die Corona-Pandemie mit Grundrechtseinschränkungen nie geahnten Umfangs reagiert worden ist. Dadurch erfahren auch historische Ausnahmezustände neue Aufmerksamkeit, wie André Keils (Liverpool) und Matthew Stibbes (Sheffield) Studie über die deutsche „Schutzhaft“-Praxis zwischen 1914 und den 1923 abklingenden inneren Erschütterungen der Weimarer Republik verrät (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4/20). Rosa Luxemburg und Franz Mehring, die KPD-Mitbegründer, gehörten zu den prominentesten unter den etwa 5.000 Personen, die allein während des Ersten Weltkrieges aufgrund des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand ohne richterliche Kontrolle als „Gefährder“ inhaftiert wurden, weil sie die Stabilität der „Heimatfront“ bedrohten. Keil und Stibbe betrachten zwar à la mode selbst „Spartakus“-Aktivisten wie Luxemburg und Mehring nicht als wirkliche, sondern nur als „diskursiv konstruierte innere Feinde“, wollen aber von der Kaiserzeit, trotz einiger Parallelen, keine „direkte Kontinuitätslinie“ zur terroristischen Schutzhaftpraxis nach der NS-Machtergreifung ziehen. 


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