© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Der Flaneur
Regen vorm Bahnhof
Paul Leonhard

Ein Rollkoffer klappert über die Fliesen. Ich schaue dem Mann hinterher, der ihn zieht. Der Kleinstadtbahnhof ist halb dunkel. Lediglich durch die Fenster mit den Wappen einiger an der Strecke liegender Städte dringt Licht. „Geschlossen wegen Stromausfall von 8 bis 15 Uhr“ steht am Reisecenter. Der Bäcker nebenan verkauft Brötchen und Kuchen, aber keinen Kaffee. Ein Mann, der gerade seinen weißen Hund an einen der Tische gebunden hatte, zieht betrübt wieder ab.

Kein heißer, belebender Kaffee im Bahnhofscafé und draußen gießt es wie aus Kübeln – welch ein trauriger Start in den Tag. Ein paar Reisende schleichen mißmutig durch die Halle. Sie stauen sich vor dem Ausgang. Niemand will in den Regen.

Zwei uniformierte Zugbegleiter laufen händchenhaltend zu den Bahnsteigen.

Ein Mann holt sich zwei belegte Brötchen, setzt sich auf eine Metallbank. Eine junge Frau steht mitten in der Halle. Mit beiden Händen hinter dem Kopf ordnet sie ihre langen, nassen Haare. Ein lautes Zischen: Ein Mann hat eine Flasche mit Sprudelwasser geöffnet, ein Teil des hervorschießenden Wassers trifft seine Kleidung, der Rest bildet eine Pfütze auf dem Fußboden. Mehrere Schlüssel klirren. Sie gehören zu einem Flaschensammler, der einen gewaltigen Bund an seinem Gürtel trägt und sein mit Beuteln beladenes Fahrrad neben sich herschiebt.

Zwei uniformierte Zugbegleiter laufen händchenhaltend zu den Bahnsteigen. An ihren Dienstrucksäcken baumeln kleine Stofffiguren als Glücksbringer. Die große Bahnhofsuhr zeigt stur 8.03 Uhr an. Ohne Strom rückt der Zeiger kein Stück vor.

„Du könntest in den Regen tanzen“, sagt eine junge Frau zu ihrem Begleiter. Seine Antwort höre ich nicht, aber die beiden hüpfen nicht nach draußen, sondern setzen sich auf eine Bank, packen Vesperbrot und eine Thermoskanne aus. Eine andere Frau läuft, in ihr Handy sprechend vorbei. Ich höre den Satz „Ich liebe die Sonne.“

Ich fasse Mut, stehe auf, verlasse den schützenden Bahnhof und flitze die Straße herunter. Mein Ziel ist ein kleiner Laden. Hier gibt es Regenschirme.