© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Hendrik Streeck erweist sich im „Duell“ mit Merkels Lieblingsvirologen als treffsicherer.
Stimme der Vernunft
Ira Austenat

Hendrik Streecks Auftritte haben die Aura des Jahrgangsbesten, der die Abschlußrede halten wird: Nett, adrett, mit einem harmlosen Scherz. Doch als „Deutschlands einflußreichster Arzt“ (Tagesspiegel) Christian Drosten im Frühjahr mit der Prophezeiung „exponentieller Infektionszahlen“ schreckte, konterte Streeck wissenschaftlich trocken: „Der Anstieg ist nicht exponentiell, er folgt einer ‘Gompertz-Kurve’.“ Gähn! Doch wie beim Wein zeigt sich die Qualität mit der Zeit: Statt immer weiter steil anzusteigen, flachte die Kurve tatsächlich ab. Und als es im April hieß, 4.000 Infektionen am Tag seien das Maximum, dann breche unser Gesundheitssystem zusammen, erklärt Streeck ruhig: „Im Herbst werden wir 20.000 Neuinfektionen pro Tag haben und daran nicht untergehen.“ Nun ist es Herbst, und wir haben fast 19.000 Infektionen – und die Intensivbetten stehen zu einem Drittel leer. 

Immer wieder erweist sich der Direktor des Bonner Instituts für Virologie, geboren 1977 in Göttingen, seinem fünf Jahre älteren, von den Medien zum „Chefvirologen“ (Zeit) ausgerufenen Kollegen als die entscheidende Länge voraus. Während Drosten, passend zu seiner hydraartig verwuschelten Frisur, die unfreiwillig den Eindruck kommenden Chaos vermittelt, sich eins ums andere mal als Apokalyptiker betätigt, mahnt der stets akkurat gescheitelte Streeck nüchtern zur Besonnenheit. 

Das unerklärte Duell der beiden fand seinen ersten Höhepunkt, als der einflußreiche Chef der Charité-Virologie im Mai Streecks berühmt gewordene „Heinsberg-Studie“ zerpflücken und eine eigene Studie plazieren wollte, bei fünf Statistikern jedoch durchfiel und sich zurückziehen mußte. Streecks Arbeit passierte dagegen vier Gutachter ohne jede Korrektur, was als außergewöhnlich bezeichnet werden kann. Als erster wies er auch auf die Bedeutung der Abwässer für die Übertragungswege von Sars-CoV-2 hin – und wurde abgekanzelt. Mittlerweile arbeiten Frankfurter Wissenschaftler im Rahmen der Pandemiebekämpfung an einem Modell zur Abwasserüberwachung. Drosten entfachte eine Testmanie und überfordert so die Gesundheitsämter mit der Kontaktverfolgung. Auch hier behielt Streeck mit seiner Warnung recht: Ungezielte Massentests erwiesen sich als sinnlos und teuer. Inzwischen können bereits 75 Prozent der Infektionsketten nicht mehr rekonstruiert werden. 

Welche Maßnahme kommt als nächstes? Bis Ende 2020 sollen wir Millionen Impfdosen genießen können. Sind wir erst alle immunisiert, wird alles gut. Streeck hält das für unseriös, da gegen das Virus der letzten großen Pandemie, HIV, 500 Impfstoffkandidaten scheiterten. Das Virus wird bleiben, und ein Lockdown kann weder lange noch strikt genug erfolgen, ohne Ökonomie und Demokratie schwer zu schädigen. Von wem die Politik sich künftig den Weg weisen lassen sollte, will sie mit dieser Realität zurechtkommen, dürfte klar sein.