© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Wo kommst du Heer, wo gehst du hin?
Bundeswehr: Zwei Fachmänner attestieren der Truppe erheblichen Verbesserungsbedarf / Ministerin steckt im Beschaffungssumpf
Peter Möller / Christian Vollradt

Seit bald dreißig Jahren gilt in der Bundeswehr: Nach der Reform ist vor der Reform. Beim Umbau der für die Landesverteidigung aufgestellten Streitkräfte zu einer weltweit einsetzbaren Truppe blieb kaum ein Stein auf dem anderen.  Daß dabei nicht alles zum Besseren reformiert wurde, dokumentiert kaum eine Zahl besser als das Zahlenverhältnis von Soldaten zu den obersten militärischen Führern: Während die Truppenstärke sich seit der Zeit des Kalten Krieges auf derzeit knapp 180.000 Soldaten mehr als halbiert hat, stieg die Zahl der Generäle und Admiräle von 193 auf 211.

Hinzu kommt, daß die Bundeswehr mittlerweile als Reaktion auf die veränderte sicherheitspolitische Lage nach der Annexion der Krim durch Rußland 2014 zum ersten Mal in ihrer Geschichte sowohl für die Landes- und Bündnisverteidigung als auch für Auslandseinsätze gewappnet sein muß. Auch wenn dafür das erste Mal seit den großen Sparrunden nach dem Ende des Kalten Krieges ein wachsender Verteidigungsetat zur Verfügung steht, der seit 2014 von 32,4 Milliarden auf 45,6 Milliarden Euro gestiegen ist, läuft die Bundeswehr seit Jahren im Krisenmodus und reißen Meldungen über mangelhafte Ausrüstung und Personalsorgen nicht ab.

Einen Ausweg aus dieser Dauerkrise wollen jetzt der ehemalige Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, Rainer Glatz, und der Mitte des Jahres unfreiwillig aus dem Amt geschiedene Wehrbeauftragte und SPD-Verteidigungsexperte Hans-Peter Bartels präsentieren. Ende vergangener Woche veröffentlichten die beiden eine im Auftrag der Stiftung Wissenschaft und Politik erstellte Studie mit dem Titel „Welche Reform die Bundeswehr heute braucht – Ein Denkanstoß.“ Denn die grundlegende Veränderung in Lage und Auftrag der Bundeswehr erfordere nun auch zwin­gend Strukturreformen: „Dabei können zu­gleich Fehler und Fehlentwicklungen der Vergangenheit korrigiert werden“, heißt es in der Studie, mit der die beiden Veränderungen anstoßen wollen, ohne die Armee erneut in eine Dauerbaustelle zu verwandeln. 

Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigen Glatz und Bartels mit Verweis auf den Bericht zur Einsatzbereitschaft des Großgerätes: „Ein Hubschrauber etwa liegt da 134 Monate hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück und wird 1,3 Milliarden Euro teurer als veranschlagt. Ein neuer Panzer ist nach Darstellung der ministeriellen Rüstungsberichterstatter 57 Monate im Verzug und wird 1,4 Milliarden Euro teurer.“

Um diese Mißstände abzubauen, wollen der General und der Politiker an wenigen, aber entscheidenden Stellschrauben drehen. Ein zentraler Punkt ist dabei die Forderung, den 2012 vom damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) aufgelösten Planungsstab wieder aufleben zu lassen. Dieses 1969 von de Maizières Amtsvorgänger Helmut Schmidt (SPD) geschaffene Gremium war zu je einem Drit­tel mit Soldaten, zivilen Angehörigen der Bundeswehr und zivilen Fachexperten von außerhalb besetzt und ist nach Ansicht von Glatz „für die Beratung eines Ministers oder einer Ministerin zwingend erforderlich“.  

In der Studie heißt es zur Bedeutung des Stabes: „Alle Leitungsvorlagen gingen auf dem Dienstweg über den Pla­nungsstab, um einen ganzheitlichen Ansatz für die Führung der Bundeswehr (und die politische Verträglichkeit für den Minister) sicherzustellen. Darüber hinaus hatte er auch Aufgaben der politischen Verbindung mit anderen Ressorts. In der modernen Managementlehre hätte man ihn als ein strategisches Unterstützungselement mit Controlling-Aufgaben bezeichnen können.“ Daneben schlagen Bartels und Glatz vor, die Rolle des Generalinspekteurs zu stärken. Da der Generalinspekteur selbst der Leitung des Verteidigungsminis­teriums angehöre, sei es beispielsweise unnötig, daß wie bisher ein beamteter Staats­sekretär zwischen dem Generalinspekteur und der Ministerin stehe. „Zu prüfen wäre, ob dem Generalinspekteur eine Art ‘Chef des Stabes’ zugeordnet wird, der mit einem leistungsfähigen Unter­bau die militärischen Abteilungen steuert, die Zusammenarbeit mit den zivilen Abtei­lungen koordiniert und die grundsätzlichen Weisungen/Befehle des Generalinspekteurs an dessen nachgeordneten militärischen Bereich innerhalb und außerhalb des Minis­teriums umsetzt“, schlagen die Autoren weiter vor.

Noch wichtiger erscheint indes der Vorstoß zur Reform des 2011 geschaffenen Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in Koblenz. Dessen mehr als 10.000 Mitarbeiter sind dafür zuständig, Rüstungsgüter zu beschaffen und instand zu halten sowie die dafür benötigten Ersatzteile zu beschaffen – mit dürftigem Erfolg wie der Auszug aus dem Bericht zur Einsatzbereitschaft des Großgerätes zeigt. Daher schlagen Bartels und Glatz vor, die Verantwortung für die Nutzung der Waffensysteme wieder den Inspekteuren der Teilstreitkräfte zu übertragen. Ein Vorschlag, der in der Truppe, die besser und schneller als das Bundesamt in Koblenz weiß, wo bei der Ersatzteilversorgung der Schuh drückt, auf breite Zustimmung stößt. Handlungsbedarf sehen die beiden Autoren der Studie zudem in der Kopflastigkeit der Bundeswehr, die ihren Ausdruck in einer wachsenden Zahl von Stäben findet, sowie in der Straffung der zivilen Wehrverwaltung.

Die als Denkanstoß gedachte Studie der beiden ausgewiesenen Bundeswehr-Experten dürfte ihre Wirkung nicht verfehlen. Anders als die grundlegenden Reformkonzepte der vergangenen Jahrzehnte setzt sie bei einigen der wichtigsten organisatorischen Schwachstellen der Armee an, die als solche teilweise bereits seit Jahren von der Truppe als Problem identifiziert und beklagt werden. Es spricht daher einiges dafür, daß diese Reform der Bundeswehr guttun würde. Sogar der Begriff selbst könnte so rehabilitiert werden. 

Denn, so schreiben Generalleutnant a. D. Glatz und der frühere Wehrbeauftragte des Bundestags zu Beginn ihres Papiers, das Wort Reform sei in der Bundeswehr geradezu verbrannt. „Im Bewußtsein vieler altgedienter Soldatinnen und Soldaten verbinden sich mit den diver­sen Reformen nach 1990 vor allem Stich­worte wie Schrumpfen, Auflösen und Umstationieren, permanent wechselnde Führungsstrukturen, Frühpensionierungs­programme, Finanznot und materieller Mangel.“

Daher kommen die Vorstöße der beiden für die Verteidigungsministerin einerseits passend – und irgendwie doch zur Unzeit. Denn Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) mußte sich dieser Tage im Verteidigungsausschuß des Bundestages gerade erst wieder für die Folgen des Mißmanagements in Sachen Material rechtfertigen.   

Nachdem Ende September schon das Vergabeverfahren im dringend benötigten Projekt „Schwerer Transporthubschrauber“ gestoppt werden mußte, weil Finanzrahmen, Anforderungskatalog und Realisierungsdatum nicht in Einklang zu bringen waren, folgte einen Monat später der – noch peinlichere – Stopp des Vergabeverfahrens zur Nachfolge des Sturmgewehrs G36. Grund sind Patentstreitigkeiten zwischen der zunächst überraschend als Sieger aus dem Rennen hervorgegangenen thüringischen Waffenschmiede C.G. Haenel sowie dem schwäbischen Rüstungsunternehmen Heckler & Koch, bei dem die Bundeswehr bisher Stammkunde war. Gegen den Haenel-Zuschlag war H&K gerichtlich vorgegangen – mit Erfolg. Ohnehin soll qualitativ das schwäbische Produkt die Nase vorn haben, nur im Preis waren die Thüringer attraktiver. 

Mit Aufklärung konnte die Ministerin im geheim tagenden Ausschuß nicht groß dienen. Für die Antworten auf wesentliche Fragen war die Zeit ohnehin zu knapp. Die Zustände im dafür verantwortlichen BAAINBw bleiben zum Haareraufen – und wie von Glatz und Bartels konstatiert dringend reformbedürftig.  

„Kampf gegen Rechts“ lenkt von Mißständen ab 

Weil es also an solch maßgeblichen Stellen nicht läuft, müssen für die Ministerin an anderer Stelle Erfolge her, die sich öffentlichkeitswirksam gut vermarkten lassen. Zum Beispiel der „Kampf gegen Rechts“. Hier war und ist noch besonders die Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) im Visier. Dort habe es bei den Reformen Fortschritte gegeben, verkündete Kramp-Karrenbauer in einem Videostatement. Im Sommer hatte, koordiniert von Generalinspekteur Eberhard Zorn, eine eigens errichtete  „Arbeitsgruppe KSK“ ein 60 Maßnahmen umfassendes Reformpaket erstellt (JF 29/20). Außerdem war eine der vier Kommandokompanien aufgelöst und deren Soldaten quasi zur Bewährung auf andere Posten gesetzt worden. Zorns nun vorgestellter Zwischenbericht zeige, daß das Verteidigungsministerium die Weichen richtig gestellt habe. „Die Mauer des Schweigens bröckelt“, meinte Kramp-Karrenbauer. Es gebe inzwischen 41 verwertbare Zeugenaussagen, die zu neuen Untersuchungen wegen des Verdachts auf Extremismus geführt hätten. Daher stehe, so die Ministerin, die Einheit noch bis Mitte 2021 „auf dem Prüfstand“. 

Unterdessen hat die größte Oppositionsfraktion im Bundestag vergangene Woche eine kritische Bestandsaufnahme zum Zustand der Truppe vorgestellt. Titel des wie eine Fernseh-Dokumentation aufgemachten AfD-Films: „Die Bundeswehr-Misere: Warum Deutschland sich nicht mehr verteidigen kann“. Drei Großbaustellen machen die Verteidigungspolitiker um ihren Sprecher Rüdiger Lucassen aus: Fehlende materielle Einsatzbereitschaft, Personalmangel und eine um sich greifende Demoralisierung der Truppe.

Zu Wort kommt auch der von Kramp-Karrenbauers Vorgängerin Ursula von der Leyen (CDU) unter unwürdigen Umständen 2017 als Chef des Ausbildungskommandos des Heeres geschaßte Generalmajor a.D. Walter Spindler. Er plädiert unter anderem dafür, über verschiedene Möglichkeiten einer Wiedereinführung der ausgesetzten Wehrpflicht nachzudenken. Man könne sich außer einem Wehrdienst wie früher auch ein Auswahl-Wehrdienst oder ein Milizsystem vorstellen. Vor allem „müßte man damit eine Reserve bilden“, forderte Spindler.

 Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik: www.swp-berlin.org