© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Der nüchterne Blick
Neuer Corona-Lockdown in Deutschland: Medien und Politik bedienen sich einer Rhetorik der Krise. Ist das durch die Tatsachen gerechtfertigt?
Mathias Pellack / Christian Rudolf

Jedes Jahr sterben weltweit etwa 50 bis 60 Millionen Menschen. Allein drei bis vier Millionen Tote gehen auf das Konto von Lungenentzündungen, die durch Bakterien, Viren oder andere Krankmacher ausgelöst werden. Anfang November 2020 sind weltweit bereits 1,2 Millionen Menschen an oder mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 gestorben. Gleichzeitig sinken die gemeldeten Fälle von Ansteckungen mit anderen Viren wie den Influenza-Varianten extrem stark, wie die Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigen, die sich beispielsweise auf das Globale Influenza-Überwachungs- und Reaktionssystem (GISRS) stützt.

Warum das so ist, ist noch nicht erforscht. Möglicherweise ist das neuartige Coronavirus so erfolgreich, daß es andere Viren aus seinem Habitat, unserer Lunge, verdrängt. Auch verstärkte Hygiene, Abstand und Maske werden ihren Teil zur Verringerung beitragen. Eine andere Möglichkeit ist, daß viele Menschen so verängstigt sind und Kontakte zu Ärzten wegen der potentiellen Ansteckungsgefahr meiden.

Diese natürliche Angst vor dem Tod könnte nun selbst zur Gefahr werden, wie eine Studie der Uni Passau nahelegt. Dort haben die Kulturwissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig versucht, die Frage zu beantworten: „Was erzählen uns Medien über unsere Vorstellungen von der Welt?“ Die Wissenschaftler analysierten dafür mehr als 90 Sendungen von „ARD extra: Die Corona-Lage“ und „ZDF spezial“ – Formate, die ähnlich auch in anderen Kanälen und anderen Ländern ausgestrahlt wurden.

Die Forscher erkannten eine „Krisenerhaltung durch Rhetorik der Krise“. Die Krise sei zum einen Thema der Sendungen, zum anderen auch das leitende erzählerische Muster, das durch eine sich wiederholende krisenhafte Bildsprache verstärkt werde. Die aus den jeweiligen Themen resultierenden Problemstellungen würden „auf der Inszenierungsebene im Zusammenspiel zu einer vollständig negativen Weltsicht übersteigert, die kein primär inhaltliches, sondern ein rhetorisches Phänomen bildet“ – und zugleich die Legitimation für weitere Sondersendungen in dichter Taktung liefere. Daß die Kritik traf, erkannte man daran, daß prompt verschiedenste Medien sich verteidigten und die Analyse als Kritik deuteten. Die Wissenschaftler stellten klar, daß sie keine „politische Lesart“ unterstützten und explizit „keine normative Bewertung“ vornehmen wollten.

Dieselbe Krisen-Rhetorik findet sich auch bei den Entscheidern in der Politik wieder – Bundeskanzlerin Merkel sprach noch vor dem neuen „Lockdown“ von „Unheil“, „Heimsuchung“ und „Naturkatastrophe“, der SPD-Abgeordnete und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach regte schon mal Corona-Kontrollen in Privatwohnungen an wegen einer „nationalen Notlage“, die „schlimmer als im Frühjahr werden“ könne. Doch wie gefährlich ist das Sars-CoV-2-Virus? Ist das empfindliche Herunterfahren des öffentlichen Lebens für zunächst einen Monat mit der Option einer Verlängerung auf unbestimmte Zeit gerechtfertigt? Was zeigen die durch Zahlen belegbaren Tatsachen?

Sehen wir zunächst noch einmal auf die Grippe: Eine Aufstellung des Robert-Koch-Instituts (RKI) von 2010 für die Jahre 1984 bis einschließlich der Grippesaison 2008 verzeichnet die Zahl der Influenza-assoziierten Todesfallschätzungen pro 100.000 Einwohner. Das RKI kommt auf einen Mittelwert von 12,8 Influenza-Toten pro 100.000 Einwohner – mit erheblichen saisonalen Schwankungen. „Influenzawellen in den Jahren 1984/85 – 2004/05“ führten „in Deutschland zu durchschnittlich etwa 8.000 – 11.000 zusätzlichen Todesfällen“, so der Bericht zur Influenzaüberwachung.

RKI kann nur ein Viertel der Ansteckungen verorten 

Die Zahl der Covid-19-Toten gibt das Statistische Bundesamt indessen mit bundesweit im Schnitt 12,4 pro 100.000 Einwohner an (2020 bis einschließlich 30. Oktober). Die Zahlen der Corona- sind mit den Grippe-Toten zwar nur bedingt vergleichbar, weil die Berichtszeiträume nicht deckungsgleich sind, aber sie zeigen eine Tendenz an.

Die Bundes-Statistiker haben eine „Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen des Jahres 2020“ veröffentlicht. Sie umfaßt noch die ersten Oktobertage dieses Jahres. „Seit der 19. Kalenderwoche (4. bis 10. Mai) lagen die Sterbefallzahlen nach der vorläufigen Auszählung zunächst wieder im Bereich des Durchschnitts der Vorjahre oder schwankten darum.“ Die „Notlage“ aus dem Frühjahr war mit dem Anbruch wärmerer Tage eben auch wieder vorbei. Zwischen dem 1. Januar und dem 15. Mai (20. Kalenderwoche) starben in Deutschland an oder mit dem neuartigen Coronavirus 7.897 Menschen. Nach der RKI-Definiton endet Mitte Mai die Grippesaison. Offenbar verhält sich Sars-CoV-2 ganz ähnlich zyklisch wie Grippeviren- oder die Rhinoviren, die Erkältungen verursachen.

Interessant: Von den vom RKI registrierten Corona-Todesfällen in unserem Land bis einschließlich 27. Oktober waren 8.612 Personen (85 Prozent) 70 Jahre und älter. „Die meisten ‘Corona-Toten’ sind über 80 und multimorbid“, sagte der bekannte Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek in einer Anhörung der Enquete-Kommission zur Corona-Pandemie des Landtags Rheinland-Pfalz am 21. August. „Wenn sie sich in einem Gesundheitszustand befanden, in dem auch eine gewöhnliche Grippe den Tod hätte auslösen können, ist der Kausalanteil des Virus sehr viel geringer, als wenn ein zuvor gesunder junger Mensch an Covid-19 stürbe.“ Die Gesamtzahl der Menschen bis einschließlich 49 Jahre, die dieses Jahr bis zum 27. Oktober „an oder mit Corona“ gestorben sind, beträgt 133.

Ein weiterer Vergleich hilft bei der Urteilsbildung zu Sars-CoV-2: In Deutschland verstarben im März 2019 etwa 86.700 Menschen. Im März 2018, also zur Zeit einer besonders heftigen Grippewelle, waren es 107.100, also um 23,5 Prozent mehr Verstorbene als im „unauffälligen“ 19er-März. „Auch ohne Corona-Pandemie können die Sterbefallzahlen demnach insbesondere in der typischen Grippezeit stark schwanken,“ interpretieren die Sonderauswerter vom Statistischen Bundesamt. Und diese „starken Schwankungen“ können auch einmal 20.400 mehr Tote bedeuten – in einem Monat. Im März dieses Jahres starben in Deutschland 87.371 Menschen.

„Während der letzten größeren Epidemie im Jahre 1995/96 forderte die Influenza schätzungsweise 30.000 Tote allein in Deutschland“, schreibt das Sächsische Staatsministerium für Soziales. Die Hongkong-Grippe, verursacht durch das Influenzavirus A1/1968 H3N2, kostete in Westdeutschland 40.000 bis 50.000 zusätzliche Tote und viele Tausende in der DDR. Im Winter 1969/70 wurden Schulen zugemacht und die Produktion mancher Wirtschaftszweige gedrosselt – nicht präventiv, sondern als Reaktion auf örtliche Häufungen von Ansteckungen.

Restaurants, Kneipen, Kinos, Theater, Fitneßstudios und Hotels sind aktuell geschlossen, Friseure indessen dürfen Haare schneiden, es fahren schlecht belüftete und volle U-Bahnen, Kinder gehen in die Schule, unbekannte Asylbewerber strömen ins Land: Die Logik erschließt sich nicht. Denn auch das RKI kann lediglich ein Viertel der insgesamt gemeldeten positiven „Corona-Tests“ einer Örtlichkeit zuordnen und einen Herd lokalisieren. „Der bundesweite Anstieg wird verursacht durch zumeist diffuse Geschehen“, gibt das RKI in seinem Lagebericht vom 2. November an – und zeigt die Ratlosigkeit der Experten.

Apropos Anstieg. „Die Zahl der Neuinfektionen stieg auf …“, so erfährt es die Öffentlichkeit täglich aus den Medien. Je höher die Zahl, desto größer der Panikfaktor. Doch ein positiver Corona-Test ist nicht gleichbedeutend mit einer Krankheit. Das, was vorliegt, ist ein positiver Sars-CoV-2-PCR-Test. Über die Viruslast ist damit noch nichts gesagt. Die meisten positiv Getesteten, etwa 80 Prozent, zeigen keine Symptome. Zur Verdeutlichung: Im kalten Oktober 2020 sind 981 Menschen in Deutschland an oder mit Corona gestorben. Für den Stichtag 2. November (der zuletzt erreichbare vor Redaktionsschluß) ergibt sich auf Grundlage der RKI-Daten eine Sterberate von 2,9 Prozent bezogen auf die zwei Wochen zuvor „Corona-positiv“ Getesteten.