© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Brüssels Schattenmänner
Lobbyisten in der EU: Wie internationale Großkonzerne, außereuropäische Staaten und Nichtregierungsorganisationen die europäische Politik beeinflussen
Jörg Sobolewski

Als im September in Bergkarabach die ersten Bomben einschlugen, rückte ein fast vergessener Konflikt wieder in das Rampenlicht der europäischen Politik. Direkt in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU flackerte ein Überbleibsel des sowjetischen Völkergefängnisses auf. Ein ungelöster Konflikt, den viele fast vergessen hatten. 

Doch in einigen Abgeordnetenbüros auf nationaler und internationaler Ebene erinnerte man sich plötzlich sehr gut an zurückliegende Einladungen zu Filmvorführungen mit einer fürstlichen Buffetauswahl und guten Weinen, von livriertem Personal auf silbernen Tabletts gereicht. Dort wurde häufig und viel über den Konflikt im Kaukasus gesprochen, allerdings ausschließlich aus der Sicht eines der beiden beteiligten Länder: Aserbaidschan. 

Schon früh hat man in Baku die Einflußmöglichkeiten erkannt, die eine zergliederte, parlamentarische Demokratie bietet. Als geeignetes Vehikel diente dafür lange Zeit die European Azerbaijan Society (TEAS). Die mittlerweile aufgelöste Vereinigung betrieb hinter den Kulissen in London, Paris, Brüssel und Berlin eine Lobbyarbeit, die selbst unter Insidern als besonders schamlos galt. 

„Wir haben überall ein paar Abgeordnete betreut. Das Schema war immer gleich: Ordentlich auf die Tränendrüse drücken, dann und wann Kohle für Herzensangelegenheiten lockermachen und am Ende bei jeder Gelegenheit einladen, verköstigen und jede noch so kleine Rechnung übernehmen“, sagt Carl S., ein ehemaliger Mitarbeiter der TEAS, im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Seinen Namen will er nicht in der Öffentlichkeit lesen, Bakus Arm ist lang. 

Eine der „betreuten“ Abgeordneten ist die Bundestagsabgeordnete Karin Strenz. Verstrickungen in einen Korruptionsskandal führten im Januar zur Aufhebung der Immunität und zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Das Brisante dabei: Die CDU-Abgeordnete war Wahlbeobachterin des Europarats in Aserbaidschan und stimmte als einzige deutsche Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gegen eine Forderung zur Freilassung politischer Gefangener in Aserbaidschan.

Doch die TEAS ist kein Einzelfall, ganz im Gegenteil. Gerade auf europäischer Ebene findet ein fröhliches Schaulaufen aller möglichen Interessenvertretungen statt. Die Verlagerung des Arbeitsschwerpunktes weg von den nationalen Parlamenten, hin zur europäischen Ebene spiegelt die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenzen wider. Immer weniger relevant sind die Parlamente auf nationaler Ebene, immer mehr wird direkt in Brüssel entschieden.

Während viele Bürger der europäischen Staaten längst den Überblick über das Geflecht aus europäischen Institutionen inner- und außerhalb der EU verloren haben, profitieren Interessenvertretungen jeder Couleur von der Unübersichtlichkeit der politischen Gemengelage. Allein der Komplex rund um das EU-Parlament in Straßburg und Brüssel, von Mitarbeitern und Journalisten auch „Ufo Brüssel“ genannt, ist enorm: „Während viele Mitarbeiter und Abgeordnete zu Beginn der Legislaturperiode sich im Labyrinth der Gänge erst zurechtfinden müssen, kennen freundliche Herren in guten Anzügen schon jeden Winkel und freuen sich immer über ein gutes Gespräch. Mit Hintergedanken versteht sich“, berichtet Friedrich Hilse, ehemaliger Mitarbeiter eines Parlamentariers in Brüssel. 

Den privilegierten Zugang und Einfluß von Unternehmen und Lobbygruppen auf die Politik der Europäischen Union offenzulegen und anzugreifen hat sich die 1997 gegründete Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory (CEO) zum Ziel gesetzt.

Aktuell kritisiert CEO, daß die Lobbyarbeit der Pharmaindustrie Profit vor eine effektive Pandemie-Reaktion stellt. Untersuchungen hätten aufgedeckt, wie Big Pharma trotz hochtrabender PR-Aussagen über sein Engagement im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie intensiv Lobbyarbeit betreibe, um sein problematisches, gewinnmaximierendes Geschäftsmodell zu schützen.

Auch zeige EU-Kommissar Frans Timmermans, verantwortlich für den European Green Deal, einen „schockierenden Mangel an Transparenz im Umgang mit Lobbyisten“, warnt CEO im Juli. Aufgrund intensiver Lobbyarbeit und mangelnder Rechenschaftspflicht werde die „Vorzeigepolitik der Ursula- von-der-Leyen-Kommission“ – und die damit zusammenhängende „Wasserstoffstrategie“ – von der Lobby der fossilen Brennstoffe in Beschlag genommen. 

Licht ins Dunkel will auch die EU- Fraktion Identität und Demokratie (ID) sowie deren Mitglied  Lars Patrick Berg (AfD) bringen. Dessen Büro hat eine Broschüre herausgegeben, die sich eingängig mit dem Komplex einer nahezu unregulierten Lobbyarbeit im EU-Parlament beschäftigt. Die neunzehnseitige Veröffentlichung hat es in sich. Die Experten des Thinktanks „Recherche D“ arbeiten darin detailliert heraus, wie sich mittlerweile in Brüssel ein Netzwerk aus „Rechtsanwälten, Interessenvertretern, Schulungszentren und spezialisierten Beratungsunternehmen“ herausgebildet hat, das den Vergleich mit den Kollegen in Washington DC nicht scheuen muß. 

Lobby-Dienstleister ersetzen Firmenvertreter

Lobbying sei heute, so heißt es weiter, „aus der Politik nicht mehr wegzudenken, da die Informationsbereitstellung durch Lobbyisten ein wesentlicher Bestandteil der politischen Entscheidungsfindung ist“. Grundsätzlich ist die Informationsbereitstellung kein besonders verwerfliches Vorgehen, sind doch die meisten Abgeordneten Laien auf den Gebieten, in denen sie politische Entscheidungen fällen sollen. 

Doch entsteht durch die unterschiedlichen finanziellen Mittel beim sogenannten „informellen Lobbying“ ein Machtgefälle. Der eine Verband kann seine Informationen bei einem angenehmen Arbeitsessen zwischen zwei Flaschen Wein präsentieren, während dem weniger finanzkräftigen vielleicht nur ein freundliches Gespräch über einer Tasse Kaffee bleibt. 

Es entwickelt sich dadurch ein intransparentes Machtgefälle, in dem immer häufiger die altbekannten Verbandsvertreter durch professionelle Lobby-Dienstleister ersetzt werden. 12.032 (2010: 2.000) registrierte Lobby-Organisationen agieren zur Zeit in Brüssel und Straßburg, so das Transparenz-Register der EU, das seit 2011 auf europäischer Ebene existiert. In ihm sind – öffentlich einsehbar – Informationen über registrierte Organisationen abrufbar. 

Seit 2015 sind Kommissare der Europäischen Kommission sowie deren Mitarbeiter und Generaldirektoren verpflichtet, Treffen mit Lobbyisten und Interessenvertretern öffentlich zu machen. Ein wesentlicher Schritt hin zu mehr Transparenz, so der damalige EU-Sprecher Antonio Gravili. Aus Sicht von „Lobbycontrol“ einem gemeinnützigen Verein, der laut eigener Aussage über „über Machtstrukturen und Einflußstrategien in Deutschland und der EU aufklären will“, ist das Register selbst aber nicht mehr als ein Trippelschritt in die richtige Richtung. Das große Problem des Transparenzregisters sei dessen Freiwilligkeit. Ob sich eine Organisation registriere oder nicht, sei eine freiwillige Angelegenheit. Überlegungen, die Registrierung verpflichtend zu machen, gibt es schon seit Jahren, bislang dauern die Diskussionen darüber aber an. 

Zu Beginn 2019 verabschiedete das EU-Parlament immerhin verbindliche Regeln zur Transparenz der Lobbyarbeit. In einer Änderung seiner Geschäftsordnung bestimmte das Parlament, daß Mitgleider des Europäischen Parlaments, die an der Ausarbeitung und Verhandlung von Gesetzen beteiligt sind, ihre Sitzungen mit Lobbyisten online veröffentlichen müssen. 

Dennoch warnen Kritiker vor einer „akuten Lobbygefahr für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft“, wie es eine Studie von Lobbycontrol ausdrückt. Angeblich nehmen besonders deutsche Unternehmen massiven Einfluß auf die europäische Gesetzgebung, so die Gruppierung mit Verweis etwa auf die deutsche Autoindustrie. Kritiker werfen dem Verein aus Köln allerdings vor, eine dezidiert linke Agenda zu verfolgen und dabei die ebenfalls stattfindende Einflußnahme linker NGOs nicht zu berücksichtigen.

 Auch Organisationen wie Greenpeace oder die Deutsche Umwelthilfe nehmen Einfluß auf die europäische Gesetzgebung, allerdings auf eine andere Art. Da sie ihre Themen über freundlich gesinnte Medien häufig direkt vermarkten können, sind sie auf eine informelle Lobbyansprache nicht mehr angewiesen. Ein strategisches Ungleichgewicht, dem Unternehmen nur schwer entgegentreten können und daher verstärkt auf das persönliche Gespräch mit den Entscheidungsträgern setzen, was wiederum den Vorwurf der Intransparenz von seiten der NGOs verstärkt. 

Lobbyismus hat keinen guten Ruf

Die Experten von „Recherche D“ fordern daher einen Mittelweg. Unternehmen soll es auch weiterhin erlaubt sein, im eigenen Interesse im politischen Betrieb vorstellig zu werden. Das erwähnte Ungleichgewicht im medialen Raum ließe kaum einen anderen Weg zu. Allerdings müsse die Transparenz gewährleistet sein. Ein „umfassender, nachvollziehbarer legislativer Fußabdruck“, der Informationen darüber beeinhalte „wie Gesetze zustande gekommen sind und welche Interessen womöglich dahinterstecken“, sei „essentiell“, wie es in der Broschüre abschließend heißt. Auch ein verpflichtendes Transparenzregister halten die Experten für unumgänglich. Wer nicht registriert sei, solle keinen Zutritt zu den Gebäuden der europäischen Institutionen haben. 

Umfragen aus dem Jahr 2019 belegen, daß unter den Deutschen der organisierte Lobbyismus keinen guten Ruf hat. Über drei Viertel der Befragten halten den Einfluß von Lobbyisten auf EU-Ebene für stark oder sehr stark, nahezu dieselbe Anzahl hält den Einfluß für negativ oder sehr negativ, wie eine Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim zusammen mit der Uni Mannheim herausfand. 

Vor allem die Anhänger der Grünen, der Linkspartei und der AfD stehen dem Phänomen sehr kritisch gegenüber, während Anhänger der Union und der SPD sich nicht ganz so skeptisch zeigen. „Lobbyismus hat in der Bevölkerung in Deutschland eindeutig ein Akzeptanzproblem“, so der Mitautor der Studie, Ulrich Wagner, zur Vorstellung der Studie im vergangenen Jahr. Auch er fordert ein verpflichtendes Register: „Dem Wunsch der Befragten nach mehr Transparenz bei Lobbyaktivitäten kann durch ein für alle Lobbygruppen verbindliches Register mit einer angemessenen Sanktionierung falscher Angaben besser entsprochen werden.“

Carl S. sieht dennoch für Interessenvertreter keine schlechten Zeiten anbrechen. „Zu allen Zeiten sind finanzkräftige Männer und Frauen bei den Mächtigen vorstellig geworden. Daran wird sich nichts ändern. Das Relevante ist doch nicht, ob jemand etwas anbietet, sondern ob die andere Person sich darauf einläßt. Ob ein politisches Gebilde zunehmend korrumpiert wird, hängt von der Korrumpierbarkeit des Einzelnen ab.“