© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Halt in Zeiten der Haltlosigkeit
Zart und streng und unbiegsam: Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op. 87 für Klavier in authentischen Interpretationen
Jens Knorr

Sein zweiter Aufenthalt in Deutschland galt dem Leipziger Bachfest 1950. Als Mitglied der 27köpfigen sowjetrussischen Delegation hatte Dmitri Schostakowitsch den Feierlichkeiten und Konzerten beizuwohnen und zur Festveranstaltung eine Rede zu halten. Er gehörte der Jury des Bach-Wettbewerbs an und spielte unter Kirill Kondraschin und mit Tatjana Nikolajewa und Pawel Serebrjakow Bachs Konzert für drei Klaviere. In seiner Rede erwähnte Schostakowitsch des russischen Komponisten Glinka begeistertes Studium der Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ des Thomaskantors – und meinte seine eigene Begeisterung. Das Werk hatte schon der elfjährige Klavierschüler kennengelernt und zu einigen der Stücke improvisiert.

Tatjana Nikolajewa berichtete, daß Schostakowitsch durch das Bachfest zum Schreiben des Zyklus angeregt worden sei, doch muß er zu diesem Zeitpunkt längst entschlossen gewesen sein, dem – nach Hans von Bülows Worten – Alten Testament der Klavierliteratur zu antworten und diese „phantastische Tradition“ fortzusetzen.

Teilaufführungen wurden zur Norm

Nach seiner Rückkehr komponierte er in unfaßbar kurzer Zeit, vom 10. Oktober 1950 bis zum 25. Februar 1951, den zweiteiligen Zyklus mit jeweils 12 Präludien und Fugen, oft an dem einen Tag das Präludium, an dem folgenden die zugehörige Fuge, dem Quintenzirkel folgend in jeder Dur- und Moll-Tonart ein Präludium und eine Fuge, die Mollparallele jeweils nachgestellt. Es war Tatjana Nikolajewa, Siegerin des Leipziger Bachwettbewerbs, die sie noch während ihrer Entstehung einstudierte, im Dezember 1952 erstmals als Gesamtzyklus aufführte und gegen alle Einsprüche stalinistischer Kulturfunktionäre und Kollegen auf dem Konzertpodium durchsetzte. Ihr sind sie gewidmet. Einige davon hat sie auf Schostakowitschs Begräbnis im August 1975 gespielt. Ihre drei Einspielungen des Zyklus auf Tonträger sind legendär.

Trotz Nikolajewas Überzeugung, daß das Werk nur in seiner Gesamtheit beurteilt werden könne, wurden während der folgenden Jahrzehnte Teilaufführungen zur Norm. Dabei konnten sich die Interpreten durchaus auf Schostakowitsch berufen. Der Komponist wollte sein Opus 87 nicht als einen fortlaufenden Zyklus angesehen wissen, sondern als eine Serie von unverbundenen Werken. Dem jedoch steht die musikalische Kohärenz und inhaltliche Geschlossenheit der Komposition entgegen.

In der Profil Edition Günter Hänssler werden nach und nach Tondokumente des großen rußlanddeutschen Pianisten Swjatoslaw Richter aus der Zeit zwischen 1945 und 1963 zugänglich gemacht. Die meisten davon waren unbekannt geblieben, da Richter bis 1960 im westlichen Ausland nicht auftreten durfte. Kein Freund ganzer Werkzyklen, hat Richter für seine Konzerte immer nur eine Auswahl aus Op. 87 zu kleinen Suiten zusammengestellt. Für diese Edition sind Konzertmitschnitte der zwölf von Richter gespielten Präludien und Fugen durch drei von Emil Gilels 1955 im Studio aufgenommene und die noch fehlenden neun aus Nikolajewas Aufnahme von 1962 zu einem Gesamtzyklus ergänzt worden.

Aber was heißt hier: ergänzt? Das an sich fragwürdige Verfahren, drei so geniale wie individuelle Pianisten und in unterschiedlichen Konstellationen exekutierte Einzelstücke zueinander zu zwingen – es geht verblüffend auf. Der Rezensent muß zugeben, ein um das andere Mal nicht heraushört zu haben, welcher der drei Interpreten welches Stück spielt.

Verteidigung von Traditionsbezügen

Die drei stellen – in der Zeit der zweiten Kampagne gegen den Komponisten und derer Nachbeben – die Klassizität des Zyklus heraus und diesen in die große europäische Tradition des Komponierens hinein. Sie stellen die musikalische Faktur der Stücke heilignüchtern, ja, priesterlich strenge dar: „zart im Wuchs, streng in der Form, unbiegsam im Geiste“, heißt es in dem Gedicht „Silberdistel“ des Lyrikers Hanns Cibulka. Sie spielen klar und illusionslos, beharrend und flüchtend, standhaft und geduckt, sich ins Einzelne versenkend, aber nicht sich im Einzelnen verlierend. Mit blutigem Sarkasmus, der von blutendem Herzen kommt, auch. Sie bilden eine Phalanx zur Verteidigung der künstlerischen und gesellschaftlichen Biographie ihres Komponisten, die auch die ihre und die ihrer Hörer war, und von Traditionsbezügen diesseits der Vorgaben des „sozialistischen Realismus“.

Die musikalische Form gibt Halt in Zeiten der Haltlosigkeit. Das Gefälle zu der zeitgeistigen Tasten-Twitterei mancher kleinen Propheten des Zyklus ist mit Händen zu greifen. Pianistische Nabelschau war übrigens bereits dem Komponisten zuwider gewesen: In den von Schostakowitsch selbst zwischen 1951 und 1951 eingespielten 18 Präludien und Fugen, pianistisch fehlbar und doch inhaltlich überzeugend, die der Edition sämtlich beigegeben worden sind, ist aller persönlicher Betroffenheitskitsch und alle verinnerlichte Äußerlichkeit vermieden. Die würden den Hörer nur von den kollektiven Erfahrungen abspalten, welche als Bedeutungsschichten allen Stücken eingeschrieben sind, sich ihnen angelagert haben und weiter anlagern.

Die unheimliche Konzentriertheit des Auditoriums in den Konzertmitschnitten Richters und Gilels’, die in solch hohem Maße wohl nur russischen Hörern eignet, sie überträgt sich auf den Hörer der Tonkonserve. Auch ohne Vorwissen dürfte er von Größe und Gewalt der Komposition und ihrer Ausführung erfaßt werden.

Dmitri Schostakowitsch 24 Präludien und Fugen für Klavier op. 87. Profil Edition Günter Hänssler 2020  www.haensslerprofil.de