© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Frankreich und der neue Antirassismus
Eine düstere Ahnung
Alain de Benoist

Auch Frankreich ist der „Black Lives Matter“-Welle, die in den letzten Monaten, insbesondere seit dem Tod von George Floyd, in die westlichen Länder eingedrungen ist, nicht entkommen. Hierzulande hat sie jedoch besondere Formen angenommen, vor allem aufgrund des wachsenden Anteils von Schwarzen subsaharischer Herkunft an der französischen Einwanderung – die im wesentlichen schon länger nicht mehr nordafrikanischen und arabisch-muslimischen Ursprungs ist.

Auf Initiative des Adama-Traoré-Komitees, das nach einem jungen Straftäter malischer Herkunft benannt ist, der in Frankreich in eine polygame Familie geboren wurde und 2016 nach einer Polizeiverhaftung verstarb, finden seit Monaten mit Unterstützung der Medien Demonstrationen gegen Polizeigewalt statt. Sie verschärfen die Feindseligkeit gegen die Polizei und mehren die Vorwürfe des Rassismus. Dabei werden immer wieder die Parallelen zum Tod von George Floyd betont, obwohl die Situationen völlig unterschiedlich zu bewerten sind. Das Verhalten der Polizei in Frankreich ist absolut nicht vergleichbar mit dem der amerikanischen Polizei. Und die Schwarzen, die in Frankreich leben, sind – mit Ausnahme der Einwanderer von den Antillen – auch keine Nachkommen von Sklaven.

Leider haben sich jedoch alle amerikanischen Moden, sei es „Gay Pride“, die Gender-Theorie oder der akademische Intersektionalismus (der vorgeblichen Aufaddierung verschiedener  angeblich Diskriminierung erzeugender Kategorien, Anm. d. Red.), letztendlich in Europa durchgesetzt. Schon die Vereinigten Staaten sahen sich von Anfang an mit einer Rassenfrage konfrontiert, die sie nie zu lösen vermochten. Erinnern wir uns: Es war 1945 ein segregationistisches Amerika, das den Sieg über Hitlers Rassismus errungen hat!

Die Ethnisierung oder Rassifizierung der sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen, die wir heute erleben, ist natürlich nicht nur auf die „ethnische Wahl“ beschränkt, die heute bereits Gegenstand politikwissenschaftlicher Analysen ist. Sie bemißt sich vor allem an der wachsenden Rolle, die ethnische und rassische Erwägungen in Urteilen, Analysen, Informationen und bestimmten Moden spielen. Etwa wenn wir uns fragen, welchen Platz in den Medien Männer und Frauen mit „vielfältigem Hintergrund“ einnehmen sollen – ein Ausdruck, der im wörtlichen Sinne keinerlei Bedeutung hat.

Konkret drückt sich dies in einer ständig wachsenden Zahl von Beschwerden, Anklagen, vorsätzlichen Beschuldigungen und immer extravaganteren Forderungen aus, die auf von Lobbys getriebenen kollektiven Impulsen beruhen, einer tränenreichen Viktimisierung und dem verlangten Recht, Rechte zu haben. So soll Europa „entweißt“ und der weiße Mann als schuldig aller sozialen Ungerechtigkeiten angeprangert werden; ja sogar als unfähig, selbst Rassismus bekämpfen zu können, da ein Weißer notwendigerweise rassistisch sei, selbst wenn er sich lautstark antirassistisch positioniert – das liege in seinen Genen! Die Invasion der „Cancel Culture“ und der Politischen Korrektheit, die ebenfalls aus den Vereinigten Staaten kommen, provoziert jeden Tag die gleiche Abfolge von hysterischen Proklamationen und wahnsinnigen Denunziationen.

Der „Antirassismus“ hat sich heute völlig gewandelt. Die Existenz von Gemeinschaften, die Rasse zur Hauptgrundlage ihrer Identität machen, ist genau in dem Augenblick offensichtlich, in dem offiziell verkündet wurde, daß „Rassen nicht existieren“. 

Vor einigen Monaten verursachte die Aufführung eines Theaterstücks des griechischen Tragödiendichters Aischylos, „Die Schutzflehenden“, an der Pariser Sorbonne gewaltige Unruhen, die schließlich zum Verbot des Stücks führten. Die Begründung: Einige Schauspieler hatten das Verbrechen der „kulturellen Aneignung“ begangen, indem sie sich schwarz (oder weiß) geschminkt hatten.

Eine Organisation wie CRAN (Repräsentativer Rat der Schwarzenverbände), die gegen „Negrophobie“ kämpft, fordert derzeit die Umbenennung von offiziellen Gebäuden, die auf den Namen des „Sklavenhändlers“ Jean-Baptiste Colbert, eines ehemaligen Ministers von Ludwig XIV., getauft wurden. Die Statue von Joséphine de Beauharnais, Napoleons erster Frau, hat man bereits vom Sockel gestürzt. Weitere Denkmäler, etwa von Napoleon, Voltaire, Saint Louis, Victor Schœlcher, Colbert und vielen anderen, sollen folgen. Diejenigen, die von einer „moralischen Geschichte“ träumen, versuchen rücksichtslos, alle Werke der Vergangenheit auszulöschen.

Die „antikolonialistische“ Feministin Rokhaya Diallo empörte, daß Kompressen rassistisch seien, weil die Bandagen weiß sind und schwarze Haut befleckten. Im vergangenen Juni beschloß die berühmte Firma L’Oréal, die Worte „aufhellend“ und „weiß“ aus ihren Kosmetikprodukten zu entfernen. Gleichzeitig verbieten „ökologistische“ Bürgermeister Weihnachtsbäume, und die Feministin Alice Coffin setzt sich in „Le génie lesbien“ für das Verschwinden der Heterosexualität ein, während der Schriftsteller Yann Moix glaubt, daß „Eltern verboten werden sollte, ihre biologischen Kinder aufzuziehen“! In jüngster Zeit gab es eine breite Debatte darüber, ob eine weiße Person das Recht habe, einen Schwarzen zu fotografieren, ohne gleich in „systemischen Rassismus“ zu verfallen. Man könnte tausend andere Beispiele anführen, die vorgeben, politisch zu sein, aber in Wirklichkeit schon auf der Türschwelle zur Psychiatrie stehen.

Jenseits der Anekdoten kann man jedoch sehr gut erkennen, daß sich der „Antirassismus“ heute völlig gewandelt hat. Vor dreißig Jahren bestand der Kampf gegen den Rassismus darin, ihm einen sehr klassischen Universalismus entgegenzusetzen, der in Frankreich als „republikanisch“ bezeichnet wurde. Europa wurde als das „Land der Menschenrechte“ wahrgenommen. Rassenunterschiede wurden als weniger wichtig betrachtet, da die zugrundeliegende Idee darin bestand, daß „wir in Wirklichkeit alle gleich sind“. Es gehörte zum guten Ton, Gleichgültigkeit gegenüber offensichtlichen Unterschieden zu betonen. Die Beseitigung von Diskriminierung aufgrund von „Vorurteilen“ und „Stereotypen“ würde zwangsläufig harmonische, gemischt­rassische Gesellschaften schaffen, und alle Probleme würden verschwinden. Kurz gesagt: Rassen waren nichts weiter als optische Täuschungen.

Diese Ansicht ist mitnichten verschwunden, aber heute hat sie jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Denn die Existenz von ethnischen Gemeinschaften ist genau in dem Augenblick offensichtlich – welch Ironie –, in dem offiziell verkündet wurde, daß „Rassen nicht existieren“.

Heute sind diejenigen, die den Ton angeben, in erster Linie „Indigenisten“, Kommunitaristen, Separatisten, die die Existenz der Rassen keineswegs relativieren. Ganz im Gegenteil, sie machen sie zur Hauptgrundlage ihrer Identität. In ihrem 2016 erschienenen Buch „Les Blancs, les Juifs et nous“ („Die Weißen, die Juden und wir“) erklärt die antirassistische Politaktivistin Houria Bouteldja, daß eine schwarze Frau, die von einem Weißen vergewaltigt wird, sich tunlichst beeilen sollte, ihn anzuzeigen. Aber daß dieselbe Frau auch, wenn sie von einem Schwarzen vergewaltigt wird, schweigen muß, um ihrer Rasse nicht zu schaden.

Rassenzugehörigkeit wird so zur Grundlage eines ganzen Weltbildes. Die Identität der „Indigènes de la République“ glaubt nicht mehr für einen Moment an die Universalität der Menschenrechte, sondern sie wurzelt – unter dem Deckmantel des Antirassismus – in einer krampfhaften Subjektivität, die darin besteht, die Weißen anzuklagen. Weiß, das heißt nunmehr schuldig zu sein, da diese Personen stets das „Privileg ihres Weißseins“ genössen. Es wird also deutlich, daß dieser Antirassismus nicht mehr das Gegenteil von Rassismus ist, sondern ein Rassismus im umgekehrten Sinne.

Das Weißsein sei das Privileg, das sich daraus ergibt, weiß zu sein oder als weiß wahrgenommen, anerkannt oder kategorisiert zu werden. Und so tritt das wahre Problem immer deut-licher in Erscheinung: Es existieren noch immer Weiße. 

Jener „antirassistische Rassismus“ ist untrennbar mit der Verbreitung dessen verbunden, was in Frankreich als „indigene Ideologie“ bekannt ist. Diese entstand in Verbindung mit den „post-colonial studies“, die ihrerseits Erben der von dem indischen Historiker Ranajit Guha gegründeten „subaltern studies“ und der „französischen Theorie“ (Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Michel Foucault) sind. Seit mehr als zwanzig Jahren verbreitet sich diese Ideologie vor allem auf amerikanischen Universitäten unaufhaltsam. Es ist schwierig, etwas davon zu verstehen, wenn man sich nicht mit der Arbeit ihrer wichtigsten Theoretiker (Eduard W. Said, Gayatry C. Spivak, Achille Mbembe, Paul Gilroy usw.) vertraut gemacht hat.

Postkoloniales Denken enthält zwei Aspekte. Auf der einen Seite gibt es eine radikale Kritik – die man berechtigt finden kann – am abstrakten Universalismus der westlichen Vernunft. Jene Vernunft, die sich bei eingehender Untersuchung als maskierter Ethnozentrismus offenbart („universelle Werte“ haben wie die Ideologie der Menschenrechte nur dem Namen nach Universalien). Auf der anderen Seite steht das viel fragwürdigere Postulat, daß die ehemals kolonisierenden Nationen durch eine Art genetischen Defekt niemals den „diskriminierenden“ Blick, den sie einst auf die Ureinwohner der Kolonien hatten, hätten aufgeben können. Daher der Name der symbolträchtigen „Partei der indigenen Völker der Republik“ (PIR). Die 2010 von Migranten gegründete Partei prangert nicht nur einen „staatlichen Rassismus“ an, sondern auch die „postkoloniale Unbedachtheit“, die die gesamte Gesellschaft durchdringe. Für die PIR, den CRAN und ihre Nachahmer ist die französische Gesellschaft grundlegend gespalten in „Nicht-rassifizierte“ und „Rassifizierte“, das will heißen: in Weiße und Nicht-Weiße. Die Rassifizierten, meist „Afro-Nachkommen“, bringen die „Kinder der postkolonialen Einwanderung“ und ganz allgemein all jene zusammen, die an einem „dekolonialen Prozeß“ beteiligt sind.

Ein ebenfalls erblicher Fatalismus scheint darin zu liegen, daß die einen von Generation zu Generation die Rolle der Unterdrücker und die anderen die Rolle der Unterdrückten verkörpern. Bei jeder Person, die „nicht rassifiziert“ ist, wird davon ausgegangen, daß sie grundsätzlich rassistisch ist, ob im Wesen oder in ihrer Macht, in ihrem Handeln oder in ihren Absichten. Ganz einfach deshalb, weil sie notwendigerweise bestimmte Vorurteile „kolonialen“ Ursprungs geerbt habe. Ob es ihm bewußt ist oder nicht, der weiße heterosexuelle Mann könne sich der ihm zugewiesenen bösen Natur nicht entziehen. Weißsein ist das Privileg, das sich daraus ergibt, weiß zu sein oder als weiß wahrgenommen, anerkannt oder kategorisiert zu werden.

Und so tritt das wahre Problem immer deutlicher in Erscheinung: Es existieren noch immer Weiße.






Alain de Benoist, Jahrgang 1943, französischer Philosoph und Publizist, gilt als maßgeblicher Ideen­geber der Neuen Rechten. Er ist Herausgeber der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis.

Foto: Die Kosmetikfirma L’Oréal streicht von ihren Cremes Bezeichnungen wie „weiß“ oder „aufhellend“: Eines von unzähligen Beispielen, die vorgeblich politisch sind, doch in Wirklichkeit auf der Schwelle zur Psychiatrie stehen