© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Frankreichs Führer für die Krisen
Vor fünfzig Jahren starb der „Generalpräsident“ Charles de Gaulle: Der zweimalige „Retter Frankreichs“ zeichnete sich durch einen rigiden Politikstil aus
Karlheinz Weißmann

Vor fünfzig Jahren, am 9. November 1970, verstarb Charles de Gaulle, der „Generalpräsident“. Die heute fast einhellige Zustimmung zu seiner Person und deren historischer Bedeutung war damals undenkbar. Denn die Linke haßte de Gaulle, weil er sie erfolgreich von der Macht fernhielt, oder sah in ihm einen Faschisten, kaum besser als Hitler. Die Rechte hielt ihn dagegen für einen nützlichen Idioten der Kommunisten und den Verräter, der das empire, das Kolonialreich Frankreichs, liquidiert hatte.

De Gaulle haben solche Attacken wenig berührt. Es gehörte zu seinem Wesen, kaum irritierbar zu sein. Eine Eigenschaft, die sich, darf man den Berichten trauen, schon bei dem jungen, am 22. November 1890 geborenen, de Gaulle gezeigt hatte. Unter Mitschülern galt er als ebenso energisch wie arrogant. Immerhin ein Charakter, für den die Offizierslaufbahn geeignet sein mochte. Am 1. Oktober 1909 trat de Gaulle in die berühmte Militärschule von Saint-Cyr ein, vier Jahre später nahm er als Leutnant im 33. Infanterieregiment seinen Dienst auf. Im Ersten Weltkrieg, der kurz darauf ausbrach, zeichnete sich de Gaulle durch seine Unerschrockenheit aus. Er wurde zum Hauptmann befördert, allerdings während der Kämpfe um Fort Douaumont am 2. März 1916 vermißt gemeldet. Sein Kommandeur, Philippe Pétain, hielt de Gaulle für tot und ehrte ihn durch namentliche Erwähnung im Tagesbefehl: „Fiel im Handgemenge. Offizier in jeder Beziehung von außerordentlichen Qualitäten.“

De Gaulle hatte tiefsitzende Vorbehalte gegen England

Tatsächlich war de Gaulle schwer verwundet in deutsche Gefangenschaft geraten. Bis Kriegsende wurde er in verschiedenen Offizierslagern festgehalten, fünf kühne Fluchtversuche blieben erfolglos. Was ihn aber mehr als das erbitterte, war die Tatsache, daß seine Karriere nach der Rückkehr nur langsam wieder in Gang kam. Daran trug sein hochfahrendes Benehmen gegenüber Kameraden wie Vorgesetzten eine gewisse Mitschuld. Aber auch die Eigenwilligkeit seiner Anschauungen spielte eine Rolle. Deutlich wurde das schon, als er 1927 im Auftrag Philippe Pétains an der Ecole supérieure de guerre Vorträge über den „Chef“ hielt, die später unter dem Titel „Le Fil de l’Epée“ veröffentlicht wurden, und dann in seinen Vorschlägen zur Errichtung einer Berufsarmee mit selbständig operierender Panzerwaffe.

Für de Gaulles Überlegungen war maßgebend, daß er einen neuen Waffengang gegen Deutschland für unvermeidbar hielt. Er teilte aber nicht nur die unter französischen Nationalisten verbreitete Auffassung, daß der Versailler Vertrag zu milde gewesen war. Er war vor allem geprägt durch ein Geschichtsbild, das man ihm bereits im Elternhaus eingeflößt hatte. De Gaulles Familie wurzelte tief im traditionellen Katholizismus und in legitimistischen Vorstellungen. Die hatten weniger mit sentimentaler Anhänglichkeit an das Haus Bourbon, mehr mit einer spezifischen Idee französischer Größe zu tun. Die war seit jeher von Großbritannien in Frage gestellt worden, und die Aversion gegen das „perfide Albion“ sollte später eine entscheidende Rolle für de Gaulles Verhalten gegenüber London wie Washington spielen. Aber akut war die Gefährdung durch Deutschland, das Frankreich zwei schwere militärische Niederlagen bereitet hatte und dessen „natürlichen“ Vorrang auf dem Kontinent dauerhaft in Frage stellte.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam deshalb für de Gaulle weder unerwartet noch unerwünscht. Allerdings hatte er massive Zweifel an der Wirksamkeit der militärischen Vorbereitungen seines Landes. Noch am 26. Januar 1940 richtete er ein Memorandum an die Regierung, in dem er seine Kritik vortrug. Was immerhin zur Folge hatte, daß ihn der amtierende Ministerpräsident Paul Reynaud zu seinem Berater machte. Kurz darauf wurde de Gaulle – mittlerweile im Rang eines Brigadegenerals – Kommandeur einer improvisierten Panzerdivision, die tatsächlich einige Erfolge im Kampf gegen Wehrmachtsverbände errang. Bedeutung für den Kriegsverlauf hatten sie aber nicht. Dasselbe wird man im Hinblick auf de Gaulles Eintritt in die Regierung als Unterstaatssekretär des Verteidigungsministeriums sagen können. Denn am 14. Juni fiel Paris, zwei Tage später trat Reynaud zurück. Das Parlament übertrug die vollziehende Gewalt an Pétain, den greisen „Sieger von Verdun“ und de Gaulles Mentor.

Allerdings war das Verhältnis zwischen beiden zu dem Zeitpunkt längst zerrüttet. Den Ausschlag gab indes, daß de Gaulle anders als Pétain die Anerkennung der Niederlage verweigerte. Am 17. Juni flog er ohne Erlaubnis nach London und erklärte am nächsten Tag in einer von der BBC ausgestrahlten Sendung, „was immer auch geschehen möge, die Flamme des französischen Widerstandes (...) wird nicht erlöschen“. Heute ist der 18. Juni 1940 ein zentrales Datum im Geschichtsbild Frankreichs. Aber man darf bezweifeln, daß die Bedeutung damals schon einer größeren Zahl von Franzosen bewußt war. Die meisten von ihnen sahen in Pétain den „Vater des Vaterlandes“, und der wandte sich nun mit aller Schärfe gegen seinen ehemaligen Protegé. Pétain ließ de Gaulle aus der Armee ausstoßen und die Staatsbürgerschaft aberkennen, zuletzt erging ein Todesurteil in Abwesenheit.

Gleichzeitig mußte de Gaulle erkennen, wie isoliert er war. Weder Großbritannien noch die Vereinigten Staaten waren willens, eine von ihm gebildete Exilregierung des „Freien Frankreichs“ vorbehaltlos zu unterstützen. Ihre Haltung änderte sich erst, als die Niederlage Deutschlands absehbar wurde. Tatsächlich gelang es de Gaulle, der kaum über tatsächliche Machtmittel verfügte, durch geschickte Manöver zu verhindern, daß die „Großen Drei“ – Churchill, Roosevelt, Stalin – allein die Neuordnung Europas bestimmten. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie bildete er am 9. September 1944 in Paris eine provisorische Regierung. 

Durch Einbindung der Kommunisten suchte er einen Bürgerkrieg zu verhindern. Nach außen war sein Hauptziel, die Anerkennung Frankreichs als gleichberechtigter Siegermacht sicherzustellen. Doch scheiterte de Gaulle mit seiner Absicht, 1945 zu vollenden, was 1918 mißlungen war und den deutschen Gesamtstaat zu zerschlagen, und es gelang ihm auch nicht, der neuen französischen Verfassung seinen Stempel aufzudrücken.

Die „Vierte Republik“ glich in wesentlichen Zügen der ruhmlos untergegangenen „Dritten“. Daraufhin trat de Gaulle Anfang 1946 als Präsident zurück. Nach allgemeiner Überzeugung tat er das in der Erwartung, daß das Volk ihn zurückrufen werde. Aber das Volk schwieg. Zu de Gaulles Enttäuschung, der sich in den folgenden Jahren der Abfassung seiner Kriegsmemoiren widmete und Aufstieg wie Zerfall „gaullistischer“ Bewegungen eher desinteressiert beobachtete.

Schon in „Le Fil de L’Epée“ hatte er die Auffassung vertreten, daß die Qualität von Männern seinesgleichen nur in der Krise deutlich hervortrete, und die erhoffte Gelegenheit kam erst am Ende der fünfziger Jahre mit der Eskalation des Algerienkonflikts. Der Unfähigkeit des Führungspersonals der Vierten Republik stand jetzt in scharfem Kontrast das Charisma eines Mannes gegenüber, der schon einmal die Nation gerettet hatte. Das war aber kaum mehr als die Schauseite. Hinter den Kulissen spielte de Gaulle skrupellos ein doppeltes Spiel, machte den Algerienfranzosen vor, daß er ihre Sache vertrete, während er längst Vorbereitungen traf, das Überseeterritorium in die Unabhängigkeit zu entlassen. Gleichzeitig hielt er den Schein der Legalität aufrecht, um doch einen „Staatsstreich auf Velours“ in Szene zu setzen, der ihm erlaubte, endlich jene Staatsordnung zu verwirklichen, die ihm schon bei Kriegsende vorgeschwebt hatte.

Bonapartismus für das 20. Jahrhundertt

Am 21. Dezember 1958 wurde de Gaulle zum ersten Präsidenten der „Fünften Republik“ gewählt. Das Amt war mit großen Vollmachten ausgestattet, das Parlament fast bedeutungslos. Kurz zuvor hatte das Volk in einem Referendum der neuen Verfassung zugestimmt. Auch das ein Vorgang, der kennzeichnend war für den Politikstil der Ära de Gaulle. Im Grunde handelte es sich um eine Art Bonapartismus für das 20. Jahrhundert, zwar keine Diktatur, aber verknüpft mit einem starken plebiszitären Element, das es dem „Chef“ erlaubte, direkt an das Volk zu appellieren. Gleichzeitig griff de Gaulle entschlossen auf die Möglichkeiten zurück, die die moderne Technik bot. Man sprach von einer „Telekratie“, da de Gaulle sehr rasch erkannte, daß es mit Hilfe des Fernsehens möglich war, ungestört von allen Zwischeninstanzen, direkt an jedermann heranzutreten.

Man darf dieses Vorgehen aber nicht mit echter Volkstümlichkeit verwechseln. Zu Recht wurde über de Gaulle gesagt, daß er zwar Frankreich liebe, aber nicht die Franzosen. Was auch darin zum Ausdruck kam, daß er seine Landsleute verachtete, die zwar Stabilität und wachsenden Wohlstand zu schätzen wußten, aber wenig Sinn dafür hatten, Frankreich wieder als Großmacht zu etablieren. Praktisch alle außenpolitischen Schritte, die de Gaulle in den sechziger Jahren unternahm – vom Nato-Austritt über die Verhinderung des britischen Zugangs zum Gemeinsamen Markt bis zur rein propagandistischen Aufwertung der westdeutsch-französischen Beziehungen und dem Aufbau einer eigenen Atombewaffnung –, dienten diesem Ziel. Aber näher kam de Gaulle ihm deshalb nicht. Vielmehr zeigte sich mit dem „Pariser Mai“, daß er seinen Handlungsspielraum falsch eingeschätzt hatte. Darüber konnte auch der triumphale Wahlsieg der Gaullisten bei den Juniwahlen 1968 nicht hinwegtäuschen. Als de Gaulle glaubte, seine geschwächte Stellung noch einmal durch ein Referendum stärken zu können, fiel die Abstimmung gegen ihn aus. Frankreich war des alten Mannes im Elysée überdrüssig. Am 28. April 1969 resignierte er. Die letzten eineinhalb Lebensjahre verbrachte de Gaulle wieder in seinem abgelegenen Wohnort Colombey-les-Deux-Eglises. Im Hinblick auf sein Begräbnis hatte er festgelegt: keine Minister, keine Politiker.

Man hat behauptet, daß das Buch „La réforme intellectuelle et morale de la France“ Ernest Renans auf de Gaulles Nachttisch gelegen habe. Das Werk, erschienen unmittelbar nach der Niederlage von 1871, enthielt Renans Abrechnung mit der Entwicklung Frankreichs seit der Revolution. Während die gemeinhin als großartiger Fortschritt gewertet wurde, sah Renan einen Prozeß des Verfalls. Er hoffte nur, daß Land und Volk genügend Substanz bewahrt hätten, um einen Wiederaufstieg zu erreichen. Man könnte de Gaulles Weg als Versuch betrachten, dieses Programm in die Tat umzusetzen, – und als Beweis dafür, daß das nicht möglich war.