© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Gegen den Strom zu schwimmen ist schwer
Der Historiker Mark Sedgwick schreibt die Geschichte traditionalistischer Modernekritik im 20. Jahrhundert
Felix Dirsch

Die Moderne mit ihrem Trend zu immer mehr Wohlstand und Freiheiten – allen inhärenten Ambivalenzen und Dialektiken zum Trotz – hat im gesamten 20. Jahrhundert durchaus Widerstände hervorgebracht. Es entstanden unterschwellige Gegenströmungen. Sie machen dezidiert auf die Nachteile der Herrschaft der Moderne aufmerksam.

Der an der Universität Aarhus lehrende Historiker Mark Sedgwick untersucht in einer grundlegenden Arbeit traditionalistisch-esoterische wie religiöse Tendenzen in ihrer ganzen historischen wie globalen Breite. Wesentliche Ursprünge verdankt die facettenreiche Richtung der schillernd-skurrilen Gestalt von René Guénon (1886–1995), der als katholischer Traditionalist in Frankreich seine außergewöhnliche Karriere begann und als islamischer Sufi in Kairo endete. Seine Kontakte zur Freimaurerei und zu diversen theosophisch-perennialistischen Strömungen sind bemerkenswert. 

René Guénon mit einer großen Wirkungsgeschichte 

Im Vordergrund seiner publizistischen Tätigkeiten steht die Aufarbeitung des geistigen Erbes der Menschheit, das von der Antike bis in die Gegenwart reicht, vor allem esoterisch-metaphysisch Eingeweihten zugänglich ist und sich gegen die als unspirituell-materialistisch empfundene Moderne wendet. Rezipierte Denker reichen von Platon über Meister Eckhart bis zu den Theosophen und Mystikern des 20. Jahrhunderts. Gnostiker, Taoisten und Sufis spielen eine wichtige Rolle. Sedgwick zeichnet die vielfältigen, oft verschlungenen Zusammenhänge mit großer Akribie nach. 

Zu Guénons Jüngern zählen der Metaphysiker Frithjof Schuon, der Religionswissenschaftler Mircea Eliade und der italienische Schriftsteller Julius Evola. Kritisch beäugt werden heute überwiegend Evolas Verbindungen zum italienischen Faschismus, obwohl sie eher als wechselhaft einzustufen sind. Viele rechte Autoren auch der jüngeren Generation wurden von dem Kulturphilosophen beeinflußt, insbesondere von seinem Klassiker („Erhebung wider die moderne Welt“). Okkultistische Zirkel, obwohl nicht selten bekämpft, finden sich auch im Umfeld der NSDAP und ihres Runenkults. Bis heute legendenumwoben ist die Thule-Gesellschaft. Ein später Nachhall ist durchaus wahrzunehmen: So fehlt in kritischen Abhandlungen selten der Hinweis, daß solche Traditionslinien heute vor allem auf der politischen Rechten rezipiert werden.

Wer viele Debatten in West-, Süd- und Mitteleuropa nach 1968 verfolgt hat, ist nicht verwundert, daß sich das Schwergewicht traditionalistischer Aktivitäten nach Rußland sowie in den islamischen Kulturraum verschoben hat. Alexander Dugin ist der wohl wichtigste Protagonist dieser Richtung in Putins Rußland. Sein neo-eurasisch und christlich-orthodox akzentuiertes Denken stößt im Westen zumindest in überschaubaren Kreisen auf Resonanz. In einer immer polyzentrischeren Welt ist es wichtig, auch jene Tendenzen des Denkens kennenzulernen, die hierzulande gern mit voreiliger Ignoranz bedacht werden.

Sedgwicks Studie beleuchtet aber auch unbekanntere Persönlichkeiten wie die islamischen Traditionalisten Chozh-Ahmad Nuchajew, Haydar Jamal und Claudio Mutti. Die Wirkungsgeschichte des Konvertiten Guénon ist beachtlich. Alles in allem ein faszinierendes Tableau von Außenseitern, die heute durchaus noch etwas zu sagen haben. Detektivisch recherchiert, bereitet der Autor den Stoff auf! Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts verdient eine große Öffentlichkeit.

Marc Sedgwick: Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019, gebunden, 549 Seiten, 38 Euro