© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Haben wir tatsächlich Platz?
Stefan Kofner

Der Anbruch des letzten von immerhin 16 Regie­rungsjahren unserer Bundeskanzlerin steht bevor. Wenn man den Umfragen trauen darf, befindet sich die Zufriedenheit mit ihrer Partei ebenso wie mit der Bundesregierung und ganz besonders ihrer Chefin aktuell auf einem ausgesprochenen Hoch. Die hervorragenden Umfragewerte verdanken sich offenbar nicht zuletzt dem großen und anhaltenden Vertrauen weiter Kreise der Wahlberechtigten in das Management der Coronakrise durch die Bundesregierung.

Die Coronakrise hat auch für die Regierung den angenehmen Nebeneffekt, daß andere Politikfelder wie die Wohnungspolitik derzeit nicht mehr ganz so weit vorn auf der Agenda stehen – um nicht zu sagen: ganz hinten. Auch das sind gute Nachrichten für die Kanzlerin und ihre Partei, denn die vier Merkel-Regie­rungen haben auf diesem Gebiet seit 2005 bei näherer Betrachtung leider keine ganz makellose Leistungsbilanz aufzuweisen; eher im Gegenteil.

Viele Menschen haben schwer unter den wachsenden Problemen am Wohnungsmarkt gelitten, und das Leiden geht weiter in Form von steigenden Wohnkosten, prekären Wohnverhältnissen, frustrierenden und langwierigen Wohnungssuchen und fehlender finanzieller Unterstützung bei der Bildung von Wohneigentum. Viele Familien sind in Not geraten oder werden von existentiellen Ängsten um den Schlaf gebracht.

Aber erstaunlicherweise wird die seit 2005 herrschende Kanzlerin kaum mit diesen negativen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Auch die meistens mitregierende SPD blieb von Kritik weitgehend verschont, obwohl sie für die Hälfte der Zeit, nämlich im ersten und dritten Kabinett ­Merkel, mit ­Wolfgang ­Tiefensee und ­Barbara ­Hendricks die Bauminister stellte. Und natürlich haben SPD und CDU auch auf landespolitischer Ebene wohnungspolitische Verantwortung getragen.

Statt die Verantwortlichen beim Namen zu nennen, hört man wohlfeile Kapitalismuskritik nach dem Motto: Der Kapitalismus hat am Wohnungsmarkt völlig versagt. Gern werden in diesem Zusammenhang auch Sündenböcke in Form der börsennotierten Großvermieter benannt, um die antikapitalistische Propaganda zu emotionalisieren. Es handelt sich hier um einen großangelegten Versuch der Diskreditierung des Ordnungsmodells der sozialen Marktwirtschaft als solchem, dessen Wucht und Beharrungskraft man nicht unterschätzen sollte. Es wird gewissermaßen die Systemfrage vom Wohnungsmarkt her gestellt.

Was ist dort seit 2005 tatsächlich passiert? Als ­Merkel in jenem Jahr Kanzlerin geworden war, hat sich für Wohnungspolitik außer den Fachleuten kaum jemand interessiert. Anders als heute standen die Wohnungsmärkte nicht unter demographischem Druck: Der Saldo der grenzüberschreitenden Wanderungen bewegte sich damals ebenso wie die Geburtenrate auf niedrigem Niveau. Die Gesamtbevölkerungszahl in Deutschland lag seit zehn Jahren praktisch unverändert bei gut 82 Millionen und entwickelte sich bei zunehmender Alterung der Bevölkerung weiter seitwärts.

Was heute aber oft verdrängt wird, ist, daß die Wohnungsmärkte schon bei Merkels Amtsübernahme keineswegs flächendeckend entspannt waren. Es gab zwar keine Dynamik bei den Hauspreisen, aber die Leerstandsquote lag gemessen am Techem-empirica-Leerstandsindex in Westdeutschland bei nur 2,5 Prozent, in Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg sogar noch deutlich darunter. Also gab es insgesamt eine gerade ausreichende Leerstandsreserve ohne Puffer für unvorhergesehene Ereignisse und gebietsweise bereits heftig angespannte Märkte.

Das wirkmächtige und langfristig prägende demographische und wohnungspolitische Narrativ der Zeit lautete aber immer noch: „Schrumpfung und Bestandsorientierung“. Ob soziale Wohnraumförderung, altersgerechtes Wohnen oder Klimaschutz – wohnungspolitische Herausforderungen sollten in erster Linie nicht durch Neubau, sondern durch Anpassung und Modernisierung der vorhandenen Wohnungsbestände bewältigt werden.

Angesichts dieses Narrativs, das per se schon demotivierend auf die Investoren wirkte, sowie zusätzlicher angeblicher haushaltspolitischer Konsolidierungserfordernisse, die vielleicht auch dem damals vorherrschenden neoliberalen Zeitgeist folgten, hat die Regierung ­Merkel als eine ihrer ersten Amtshandlungen ein großes sozial- und wohnungspolitisches Experiment gewagt: Sie hat zum 1. Januar 2006 die beiden wichtigsten wohnungspolitischen Subventionen komplett abgeschafft, nämlich die Eigenheimzulage und die degressive Abschreibung für den Mietwohnungsneubau.

Der Wohnungsmarkt blieb damit – und das hatte es seit 1949 noch nie gegeben – für die nächsten zwölf Jahre förderseitig sich selbst überlassen. Angesichts einer Wohneigentumsquote von seinerzeit unter 42 Prozent und sogar nur 30 Prozent im Osten war insbesondere die Abschaffung der Eigenheimförderung vermögens- und familienpolitisch eine äußerst fragwürdige Maßnahme. Zusätzlich unterlag der Mietwohnungsmarkt weiterhin einem dichten Regulierungsgeflecht, aber von nun an ohne kompensierende steuerliche Abschreibungserleichterungen.

Gleichzeitig wurde im Zuge der Föderalismusreform der soziale Wohnungsbau wegen knapper Kassen auf Sparflamme heruntergefahren. Der Stabwechsel vom Bund an die Länder hat nicht funktioniert. Auch die Länder mit angespannten Wohnungsmärkten haben viel zu wenige Sozialwohnungen gebaut. Zwischen 2006 und 2015 war die Zahl der neugebauten Sozialmietwohnungen mit bundesweit zwischen 10.000 und 15.000 realisierten Einheiten eine vernachlässigbare Größe. Da gleichzeitig viel mehr Sozialwohnungen aus der Förderung fielen, halbierte sich deren Anzahl in der Amtszeit ­Merkels von zwei auf nur noch eine Million; diese Tendenz hält an.

Als Folge dieser einschneidenden wohnungspolitischen Weichenstellungen erreichten die Wohnungsfertigstellungen in den ersten Jahren der Regierung Merkel immer neue Tiefststände. Im Jahr 2006 wurden noch 250.000 Wohnungen hergestellt, dann folgte ein kontinuierlicher Abfall auf einen Tiefststand von nur noch 160.000 in den Jahren 2009/10. Der Markt wurde sehenden Auges in den Mangel gleiten gelassen. Erst 2012 wurde die Marke von 200.000 Wohnungsfertigstellungen wieder überschritten. Viele Jahre wurde so nicht einmal der rein demographisch abgeleitete Wohnungsbedarf gemäß den vorliegenden Wohnungsbedarfsprognosen erfüllt – von dem mindestens ebenso hohen Zusatzbedarf an Ersatzneubauten aufgrund des alternden Wohnungsbestands ganz zu schweigen. Über die gesamte Amtszeit ­Merkels hinweg wurde die rechnerisch für einen deutschlandweit ausgeglichenen Wohnungsmarkt notwendige Neubauleistung nicht annähernd erreicht.

Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Die Mieten und auch die Boden- und Hauspreise haben mit einer gewissen Verzögerung in der zweiten Amtsperiode Merkels kräftig Fahrt aufgenommen und bis heute so gut wie ungebremst immer weiter zulegen können. Besonders betroffen waren die großen kreisfreien Städte in Deutschland. In Berlin und München sind die Mieten geradezu explodiert.

Der größte und am wenigsten verständliche wohnungspolitische Fehler der aufeinanderfolgenden Merkel-Kabinette war aber nicht ihre mangelnde Voraussicht und Vorsorge auf diesem zentralen Gebiet der Daseinsvorsorge, sondern ihre jahrelange wohnungspolitische Inaktivität angesichts eines gemessen an wichtigen wohnungspolitischen Indikatoren immer unabweisbareren Handlungsbedarfs. Ab 2011 setzte – auch als Folge der wohnungspolitischen Fehler und Versäumnisse seit 2005 – ein deutlicher und anhaltender Anstieg der Immobilienpreise und Mieten ein, und gleichzeitig begann die Leerstandsquote von einem niedrigen Niveau aus weiter zu sinken.

Eine förderpolitische Reaktion des Bundes erfolgte aber sechs Jahre lang nicht, obwohl die Anspannung der Märkte immer weiter zunahm. Tatsächlich hat die Bundesregierung sogar noch Öl ins Feuer gegossen, indem sie 2015 durch ihre standhafte Weigerung, die deutschen Grenzen zu schließen, die verknappten Wohnungsmärkte einem zusätzlichen, für die Akteure nicht vorhersehbaren demographischen Druck ausgesetzt hat. Zwischen 2015 und 2019 hat die Bevölkerung aufgrund der steigenden Nettozuwanderung per saldo um zwei Millionen Personen zugenommen. Diesen Schub konnten die bereits heftig angespannten Wohnungsmärkte nicht mehr verkraften.

Grundsätzlich verläuft die räumliche Bevölkerungsentwicklung, also der Saldo der Zu- und Abwanderungen über die deutschen Grenzen, wesentlich weniger stetig als die natürliche Bevöl­kerungsentwicklung. Der Überschuß der Geburten über die Sterbefälle hat bei uns freilich seit den siebziger Jahren ein negatives Vorzeichen. Dagegen hat die Außenwanderung seit 2010 einen wachsenden demographischen Druck auf die Wohnungsmärkte ausgeübt, und zwar nicht nur landesweit, sondern besonders auch auf die räumlichen Brennpunkte des Wohnungsbedarfs.

Die Bundesregierung hat darauf nicht angemessen mit den Mitteln der Wohnungsbauförderung reagiert. Dies, obwohl absehbar war, daß es mit der Herstellung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für die mittel- und osteuropäischen EU-8-Staaten ab dem 1. Mai 2011 und später noch für Bulgarien, Rumänien und Kroatien zu einer erhöhten Zuwanderung nach Deutschland kommen würde.

Zwischen 2010 und 2019 sind per saldo kumuliert 4,6 Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert. Diese Zuwanderungsbewegung war auch in diesem Ausmaß überwiegend absehbar, und einen beachtlichen Teil davon hat die Bundesregierung sogar ohne rechtliche Verpflichtung zugelassen, wenn nicht „eingeladen“. 4,6 Millionen Personen entsprechen einem zusätzlichen Wohnungsbedarf von rund zwei Millionen Wohnungen und damit der kompletten Fertigstellungsleistung von rund sieben Jahren. Die Wohnraumschuld der CDU-Regierung unter Merkel wächst also weiter.

Ganz anders als der Außenwanderungs­- ist der Binnenwanderungssaldo der sieben größten Städte wie auch der aller kreisfreien Großstädte schon seit Jahren negativ. Die hohe Zuwanderung aus dem Ausland, die durch eine unzureichende Bautätigkeit nicht annähernd kompensiert worden ist, hat die Anspannung der großstädtischen Wohnungsmärkte entscheidend verschärft. Man mag über die Migration als solche denken, wie man will – die Regierung jedenfalls hat die Menschen in Deutschland mit den erwartbaren Folgen der absehbaren massiven Zuwanderungen für den Wohnungsmarkt völlig allein gelassen. Förderpolitische Impulse wurden erst 2018/19 mit dem Baukindergeld und den Sonderabschreibungen für den Mietwohnungsneubau gesetzt.

Was die Regierung dagegen in Angriff nahm, als die Notlage sich verschlimmerte, war eine asynchrone Interventionsspirale, also eine erhebliche regulatorische Verschärfung ohne begleitende Intensivierung der Förderanreize. So hat man bereits 2013 gebietsweise engere Kappungsgrenzen für Mieterhöhungen eingeführt und 2015 mit der Mietpreisbremse die Markt­orientierung des Vergleichsmietensystems entscheidend beeinträchtigt. Im vergangenen Jahr wurde dann – für viele betroffene Mieter zu spät – die Modernisierungsumlage abgesenkt und gekappt, weil wegen der zunehmenden Marktanspannung Modernisierungen auf breiter Front zu spürbaren Mieterhöhungen und Verdrängungs­tendenzen geführt hatten.

Mit diesen Eingriffen war die Büchse der Pandora endgültig geöffnet. Die kontraproduktiven Effekte solcher Placebo-Maßnahmen für die Funktionsfähigkeit des Preissystems am Wohnungsmarkt und die Investitionsanreize wurden ebenso wie deren willkürliche Verteilungswirkungen in Kauf genommen.

Das kräftige Anziehen der regulatorischen Daumenschrauben, das in dieser Form allenfalls mit der Wohnungszwangswirtschaft der Nachkriegszeit verglichen werden kann, war tatsächlich nichts anderes als der Beweis des eigenen wohnungspolitischen Versagens. Mitten im Frieden hat man bestenfalls durch Schlafmützigkeit und Inkompetenz eine so ernste Anspannung an den Wohnungsmärkten heraufbeschworen, daß man sie nur noch mit zwangswirtschaftlichen Mitteln in den Griff zu bekommen glaubt. Das muß man erst mal schaffen.

Besonders fatal sind die langfristigen Folgen dieses Politikversagens für die Rationalität der wohnungspolitischen Diskussion. Denn es ist ja mit tatkräftiger Unterstützung der Leitmedien weitgehend gelungen, das Staatsversagen in ein Marktversagen umzudeuten. Dadurch wurde die Debattenkultur regelrecht zerstört und jeder ordnungspolitische Kompaß ist inzwischen verlorengegangen. Mietendeckel, Enteignungen und Umwandlungsverbote nehmen längst nicht mehr nur Linksradikale ins Auge. Das Ordnungsmodell der sozialen Marktwirtschaft wurde durch das nicht eingestandene und nicht zugerechnete Versagen der vier aufeinanderfolgenden Merkel-Regierungen auf dem Gebiet der Wohnungs­politik massiv diskreditiert. ­Ludwig ­Erhard würde sich im Grabe umdrehen.






Prof. Dr. Stefan Kofner lehrt an der Hochschule Zittau/Görlitz als Wirtschaftswissenschaftler und Hochschullehrer im Bereich Wohnungs- und Immobilienwirtschaft.