© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Schenkst du mir, was ich dir geliehen habe?
Dirk Meyer

Die Covid-19-Pandemie hat insbesondere die Mittelmeer-Krisenstaaten wirtschaftlich schwer getroffen. Von der EU-Kommission werden für Ende 2020 Schuldenstandsquoten für Italien von 158,9 Prozent, für Griechenland 196,4 Prozent und für Portugal 131,6 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts vorhergesagt. Ohne Hilfen dürften die Risikozuschläge dieser Staaten stark ansteigen, was ihre zukünftige Kreditaufnahme erheblich verteuern würde. Es ist zu befürchten, daß diese Länder letztendlich den Kreditzugang vollständig verlieren werden, was wiederum die Finanzstabilität der gesamten Eurozone und deren Banken hart träfe.

Da nun aber die Gemeinschaftswährung Euro für jeden Mitgliedstaat gleichsam eine Fremdwährung ist, hat keiner von ihnen direkte Zugriffsmöglichkeiten auf seine Währung, wie vor der Euro-Einführung im Januar 1999. Damals hätte sich beispielsweise Italien die fehlenden Lire selbst drucken können – was in der Vergangenheit bekanntlich geschah. Damit ist Schluß, weil die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) jeglichen nationalen Regierungseinfluß verbietet.

Zur Abwendung der Krisengefahr vornehmlich einiger hochverschuldeter Eurostaaten gab es daher zwei konventionelle Möglichkeiten: fiskalische Hilfen der Staatengemeinschaft und monetäre Hilfen der EZB. Beide Wege wurden bereits beschritten und haben ihre je eigenen Probleme. Der geplante EU-Wiederaufbaufonds würde die Fiskalunion mit Transfercharakter unumkehrbar machen.

Deshalb könnte als Alternative ein allgemeiner ESZB-Schuldenerlaß herhalten. (Das ESZB umfaßt die EZB und die 19 nationalen Notenbanken.) Dabei sollen drei Kriterien gelten: Erstens muß das entsprechende Mittelaufkommen den geplanten Wiederaufbaufonds ersetzen können; zweitens ist eine Ungleichbehandlung der Staaten durch Transferelemente zu vermeiden; und drittens soll die Vereinbarkeit mit bestehenden EU-Rechtsnormen gewährleistet bleiben.

Zunächst muß deshalb eine Rechtsgrundlage für die Entschuldung geschaffen werden. Mit der Rechtfertigung eines Euro-Staatennotstands könnte das Rechtskonstrukt einer Verfassungsdurchbrechung angewendet werden. Als Ausnahmerecht müßte über eine Vertragsänderung (Art. 48 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) ein punktueller, begrenzter Ausnahmefall abgesichert werden – was selbstverständlich politisch heikel wäre, denn das Verbot der monetären Staatsfinanzierung gilt neben dem „Bail-out“-Verbot als eine der zentralen Rechtsnormen der EU-Wirtschaftsverfassung. Auch deshalb wäre eine Durchführung im Rahmen des geltenden EU-Rechts angeraten.

Eine Möglichkeit des Schuldenerlasses durch das ESZB – man spricht auch von Monetarisierung – besteht in der Umwandlung der angekauften Staatsanleihen in ewige, zins- und tilgungsfreie Schuldpapiere in einem vorher beschlossenen Umfang. Dadurch, daß der Staat weder Zinszahlungen leisten noch eine Tilgung des Kredits vornehmen muß, verlieren diese Schuldpapiere jeglichen Wert – er ist null. Die 19 Euro-Staaten – auf sie entfallen 610 des 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds – wären um diese Summe schuldenbefreit.

Für Deutschland macht dies eine Schuldenentlastung von 161 Milliarden Euro aus und hätte damit in etwa den Umfang des ersten Nachtragshaushalts der Bundesregierung vom März 2020 in Höhe von 156 Milliarden Euro. Im Unterschied zum Wiederaufbaufonds wären die Staaten völlig frei in einer sinnvollen, eigenverantwortlichen Verausgabung der Mittel und die im EU-Rat offen ausgetragenen Konflikte wären schlicht Geschichte. Da die Entschuldung der Staaten in Anlehnung an den EZB-Kapitalschlüssel gleichmäßig erfolgt, findet insofern keine Umverteilung statt. Jedes Land erhält nur Gelder entsprechend der Größe ihres Anteils am Euro-Währungsraum.

Aber auch diese Lösung ist keinesfalls der Königsweg. Bilanziell entsteht das Problem, daß im Umfang der Entschuldung bei den 19 nationalen Notenbanken und der EZB ein Verlust entsteht. Nur sind die Notenbanken im Verhältnis zu ihrer Bilanzsumme mit relativ wenig Eigenkapital ausgestattet, aus dem der Verlust zu tragen wäre. Bei der EZB stehen 10,8 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Bundesbank selbst hat ein Eigenkapital in Höhe von 5,7 Milliarden. Bei einer Entschuldung in Höhe der Mittel des Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro würden alle Notenbanken ihr Eigenkapital verlieren und sogar eine Eigenkapitallücke aufweisen, die im normalen Geschäftsverkehr sofort einen Konkurs auslösen würde. 

Der nur scheinbare Vorteil besteht darin, daß Notenbanken nicht zahlungsunfähig werden können, da sie das gesetzliche Zahlungsmittel selbst herstellen und damit jegliche Verbindlichkeit durch Geldschöpfung bedienen können. Dabei setzt sich die Notenbank aber der Gefahr eines Vertrauensverlustes aus. Hinzu kommt, daß die geldpolitische Steuerung vollends verlorengeht. Denn mit dem Schuldenerlaß fehlen der Zen­tral­bank werthaltige Vermögenswerte, mit denen das viele ausgegebene Geld wieder eingesammelt werden kann, sollte dies aufgrund einer Konjunkturerholung und drohender Inflation notwendig werden.

Sieht man die jeweiligen nationalen Noten­banken und den Staat als Einheit, so heben sich die Vermögenseffekte auf: Was dem Staat an Schulden erlassen wird, kann die staatliche Notenbank nicht mehr einfordern. Das Prinzip von linker Tasche und rechter Tasche greift.

Dies unterscheidet die Monetisierung durch eine Zentralbank von einem allgemeinen Schuldenschnitt, der über die gesamte Anleiheemission vorgenommen wird. Hiervon wären auch die Bestände in den Händen Privater betroffen, so daß der Staat in diesem Umfang einen Vermögenszuwachs zu deren Lasten erfahren würde. Die Widerstände gegen eine Monetisierung dürften daher geringer ausfallen.

Ist also Staatsverschuldung – grenzenlos – zum Nulltarif möglich? Diese These vertritt die Modern Monetary Theory. Doch wo liegen die Fallstricke? Die Kredite haben den Staaten Kaufkraft verschafft, mit denen inländische Waren und Dienstleistungen sowie Importe beschafft wurden. Indem das ESZB das Zentralbankgeld in der Vergangenheit mit den Anleihekäufen bereits in den Verkehr gebracht hat, entsteht durch den Erlaß kein zusätzlicher inflationärer Effekt. Allenfalls wäre eine Verdrängung privater Güternachfrage durch den Staat feststellbar gewesen, die bereits früher zu Preissteigerungen geführt hätte. Deshalb scheint ein fortwährender Schuldenerlaß möglich. Ohne eine konjunkturelle Nachfragelücke, also bei guter Konjunktur, ist dann jedoch Inflation Programm.

Hat die Nachfragelücke hingegen strukturelle Ursachen wie beispielsweise eine geringe Produktivität der Wirtschaft, dann wären Reformen notwendig. Ungezügelter Staatskredit macht den Weg frei für Ressourcenverschwendung und Projekte ohne gesellschaftlichen Nutzen. Spätestens bei einer Hyperinflation würden die Bürger eine „Abstimmung mit den Füßen“ vornehmen.

Die politische Devise kann also nur lauten: Zurück auf Los! Keinen kreditfinanzierten EU-Wiederaufbaufonds, keine Anleihekäufe mit subventioniertem Kreditzugang notleidender Staaten, keinen – auch nur einmaligen – Schuldenerlaß. 

Es bleibt die Rückbesinnung auf die Verbote der monetären Staatsfinanzierung und des finanziellen Beistands sowie auf das Gebot einer Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite, am besten ergänzt durch einen Automatismus für Sanktionen bei Verstößen. Allenfalls denkbar wäre der Rettungsschirm ESM, dessen Hilfen an kontrollierte Bedingungen geknüpft sind und dessen Einsatz von den Euro-Staaten selbst gesteuert wird. Zudem ist die Zeit gekommen, über EU-Regelungen zu Staateninsolvenzen und  möglichen Euro-Austrittten nachzudenken.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er war Gutachter für Verfassungsklagen gegen die Griechenlandhilfe.