© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/20 / 06. November 2020

Das Bürgertum und seine Feinde
Konrad Adam

Es gibt Leute, die von sich behaupten, ihre Steuern gern zu zahlen. Sie rechnen damit, auf diese Art den Ruf eines ehrenhaften, opferbereiten, pflichtbewußten Bürgers zu erwerben; aber ich glaube ihnen nicht. Kein Mensch zahlt seine Steuern gern, schon gar nicht, wenn sie in so abenteuerlicher Höhe erhoben werden wie in Deutschland üblich. Warum sonst gehen die Leute mit sogenannten Steuersparmodellen die kuriosesten Risiken ein, warum sonst garantieren Buchtitel wie „Steuern sparen mit …“ reißenden Absatz, warum sonst hören die Menschen den Quacksalbern zu, die vorgeben, die Tricks und Kniffe zu verraten, mit denen man sein Geld beisammenhalten kann? Nein, niemand zahlt seine Steuern gern, ich auch nicht. Die Machthaber wissen das und versuchen ihren unerschöpflichen Appetit nach Geld und immer mehr Geld mit schönen Worten zu bemänteln, indem sie von Notopfern, Kohlepfennigen, Versicherungsbeiträgen, Rundfunkgebühren oder Solidaritätszuschlägen reden. Die Bürger lassen sich aber nicht hinters Licht führen, sie durchschauen das Spiel, sie wehren sich und haben aus der Steuerhinterziehung einen Volkssport gemacht.

Geht es nach dem Willen der Bürger, sollen die Steuern nicht nur maßvoll, sondern vor allem gerecht erhoben werden; wie die Gerechtigkeit ja überhaupt seit eh und je als die Kardinaltugend des guten Staatsmannes gilt. Starke Schultern sollen mehr tragen als schwache, heißt der Grundsatz, der im Progressionstarif seinen sichtbaren Ausdruck findet. Die Frage ist dann nur noch, wie steil die Progressionskurve verlaufen darf und wo sie schließlich enden soll, ohne das eherne Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit zu verletzen. Das ist jedoch die falsche Frage, denn der heißumkämpfte Spitzensteuersatz steht für die meisten, die ihm unterliegen, bloß auf dem Papier. Weshalb man völlig zu Recht behauptet hat, daß sich ein gutes und gerechtes Steuersystem nicht durch die Höhe des Spitzensteuersatzes auszeichnet, sondern durch eine möglichst geringe Zahl von Ausnahmen.

Im deutschen Steuersystem, dem kompliziertesten weltweit, wimmelt es aber nur so von Ausnahmen; Fachleute kommen auf weit über hundert Ausnahmetatbestände, vulgo Schlupflöcher genannt, durch die man den Steuerdruck mindern, mit einigem Geschick sogar in Subventionsansprüche verwandeln kann. Und es sind nicht die schwachen, sondern die starken Schultern, die sich die teuren Spezialisten leisten können, mit deren Hilfe sie ihr Geld retten, dem Zugriff des Fiskus also entziehen können. Sie kennen nicht nur die Paragraphen, sondern auch die Inseln, die Paradiese und die Oasen, wo das Leben teuer und die Abgabenlast niedrig ist, und sie verkaufen ihr Wissen an jeden, der gut zahlen kann. Dieses Wissen macht den wahren Reichtum aus, belohnt wird das Know-how. In ihm – und oft genug auch nur in ihm – sind die Winterkorns und die Ackermanns, die Gates, die Blankfeins und die Zuckerbergs der Masse der Steuerpflichtigen, die zahlen müssen, weil sie nicht anders können, weit voraus. Der goldene Weg nach oben ist mit Steuersparmodellen gepflastert.

Tatsächlich spottet das deutsche Steuerrecht in beispielloser Weise der elementaren Forderung nach Leistungs- und Belastungsgerechtigkeit, und das nicht etwa trotz, sondern gerade wegen seiner absurden Dimensionen, die eine Ausnahme an die andere reihen und so der Willkür Tür und Tor öffnen. Alle Versuche, den Irrgarten zu durchforsten und auszumisten und das Verfahren jedenfalls so weit zu vereinfachen, daß auch der fachlich unberatene Bürger das System durchschauen und seinen Steuerbescheid aus eigener Kompetenz überprüfen kann, sind am Widerstand der gut organisierten Interessenten gescheitert. Frau ­Merkel wußte schon, warum sie ­Friedrich ­Merz ausgebootet und das ­Kirchhofsche Steuermodell, das mit vier oder fünf Steuerarten auskommen wollte, verworfen hat; und ­Gerhard ­Schröder, der Autokanzler, wußte das erst recht. In Deutschland arbeiten sich Geld und Macht in die Hände, ziehen den einfachen Mann über den Tisch und sorgen dafür, daß alles so bleibt, wie es war und ist.

Während der Angestellte im Handumdrehen in die höchste Steuerklasse hineinwächst, werden die wahren Fundgruben, die Einkommen aus Kapitalvermögen, mit einer Abgeltungssteuer belastet, die gerade einmal halb so hoch ist wie der ominöse Spitzensteuersatz: „Lieber 25 Prozent als gar nichts“, meinte der zuständige Finanzminister, ein Sozialdemokrat, zu dieser schreienden Ungerechtigkeit. Nimmt man die Zwangsbeiträge zu der sozial genannten Versicherungsindustrie, die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungsprämien, hinzu, entdeckt man ein zweites Steuersystem, das allerdings die wahrhaft Reichen verschont. Die sogenannte Beitragsbemessungsgrenze ist alles andere als eine soziale Wohltat, sie belastet einseitig die kleinen und die mittleren Einkommen und erweist sich bei nüchterner, also kaufmännischer Betrachtung als ein überaus wirksames Instrument zur Umverteilung von unten nach oben. 

„Wachstum“ lautet die Parole, mit der die Dogmatiker der freien Marktwirtschaft das immer weitere Auseinanderklaffen zwischen oben und unten vermeiden, den Abstand vielleicht sogar verkürzen wollen. Das Wirtschaftswachstum nutze allen, behaupten sie, denn der Reichtum sickere und komme irgendwann auch ganz weit unten an. Das ist, wie alle Dogmen, tendenziöser Schwindel. Man braucht keinen Gini-Koeffizienten, um festzustellen, daß eine wachsende Wirtschaft wenige Gewinner und viele Verlierer hat und auf diese Weise den Graben zwischen Arm und Reich immer weiter aufreißt. Selbst ein so wirtschaftsfreundliches Blatt wie die FAZ kam nicht umhin, unter dem Titel „Die Reichen werden immer reicher“ gleich zweimal innerhalb von ein paar Wochen über die Entwicklung zu berichten. Die hemmungslose Schuldenwirtschaft, von Unternehmern und Gewerkschaften, linken und rechten Kräften gleichermaßen vorangetrieben, läßt die Reallöhne sinken und den Wert der Kapitalvermögen steigen; soweit erkennbar, hat Corona diesen Prozeß in jüngster Zeit noch einmal kräftig beschleunigt. 

Der entfesselte Kapitalismus, faßt ­Joseph ­Stiglitz, der frühere Chefvolkswirt der Weltbank, sein Urteil zusammen, sei längst nicht mehr darauf aus, neues Vermögen zu schaffen – er begnüge sich damit, es den anderen einfach abzunehmen. ­George ­Soros, der aus unerfindlichen Gründen in Deutschland und aller Welt immer noch als Philanthrop gerühmt, bewundert und umworben wird, hat es vorgemacht. Auf die Frage, wer die Milliarden, die er mit seiner Spekulation gegen das britische Pfund ergaunert hatte, denn nun aufgebracht habe, antwortete er in einer Anwandlung von Wahrhaftigkeit: Der englische Steuerzahler – lauter kleine Leute also. Profitiert haben ­Soros selbst und die Teilhaber seines Quantum-Fonds, den er weitschauend in irgendeinem Steuerparadies angesiedelt hatte. Noch nie, schreibt ­Stiglitz im Rückblick auf die zügellose Finanzwirtschaft und ihre Folgen, noch nie in der Geschichte des Planeten hätten so viele so wenigen zu so viel Geld verholfen, ohne auch nur die geringste Gegenleistung zu erhalten.

Nach all den Umwertungen, den Wertverlusten und Wertsteigerungen, die das vergangene Jahrhundert mit sich gebracht hat, ist der Kontostand, der Börsenwert, das nackte Geld, die bloße Zahl als letzter aller Werte übriggeblieben. „Because I’m worth it“, begründete ein Mitglied der globalen Luxusklasse den demonstrativen Genuß seines Milliardenerbes. Voller Respekt berichten die Zeitungen über die Reihenfolge auf der berüchtigten Forbes-Liste und präsentieren Rekordhalter wie den Apple-Star ­Steve ­Jobs oder Jeff ­Bezos von Amazon als Vorbilder für die Jugend. Geiz und Gier, von den Christen in aller Welt als Todsünden erachtet, werden zu Tugenden aufpoliert, und wenn die Deutsche Bank ihr Motto „Leistung aus Leidenschaft“ ausposaunt, dann denkt sie dabei nicht an ihre Mitarbeiter, ihre Kunden oder ihre Aktionäre, sondern an die Bereicherungsorgien ihrer leitenden Herren. Die kluge Madame de ­Staël, Tochter des letzten Finanzministers im Ancien régime, nannte die Habsucht einen schäbigen Charakterzug; man müsse ihn betrauern, „sich seiner zu rühmen ist neu“.

So fällt auseinander, was zusammengehört: die Gesellschaft. Die Zuviel- und die Nichtsbesitzer, diese „zwei unerlaubten Menschenklassen“, wie ­Nietzsche sie einmal genannt hat, beherrschen die Szene und diktieren das Programm. Von oben und unten unter Druck gesetzt, blutet die bürgerliche Mitte aus – und mit ihr die Schicht, die es für selbstverständlich hielt, auch ohne Lohn und Gegenleistung der Gemeinschaft zu dienen. Die globale Klasse hat von den Chicago Boys gelernt, Steuervermeidung als Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg zu betrachten, und pfeift auf den Staat. Auf der anderen Seite steht die schnell wachsende Masse der Habenichtse, der Mühseligen und Beladenen, die zum Gemeinwohl nichts beitragen können oder wollen. Von den Reichen als Kunden, von den Mächtigen als Wähler umworben, betrachtet diese Schicht Hartz IV als Beruf und die Regierung als Sozialstation. Das ist die marktkonforme Demokratie, Angela Merkels Traumgespinst; sie braucht die Massen als Stimmvieh und als Konsumenten, aber keine Bürger. Der Bürger stört: Er stört die Herrschenden beim Herrschen, die Reichen beim Immer-reicher-Werden. The day of the common man is past, wie man in England sagt.

Mit ihm dann auch die Vorstellung von Recht und Anstand, Sitte und Moral. Sie wird ersetzt durch die Moral des Marktes, die schon der Premierminister des Bürgerkönigs Louis-Philippe I. auf die knappe Formel gebracht hatte: „Bereichert euch!“ Was man dem Wirecard-Vorstand und anderen Gaunern nicht zweimal sagen mußte. Die neue, die Geschäftsmoral, gilt als Systemprodukt, das sich im Rücken der Marktteilnehmer auf wundersame Weise ganz von selbst herstellt, also keiner Anstrengung bedarf und jeder Regel spottet. Ludwig von Mises, der Prophet dieser Gegen- oder Amoral, hat es in klaren Worten ausgesprochen: Er wollte keine alten durch irgendwelche neuen Regeln ersetzen, sondern den ganzen Aufwand dadurch überflüssig machen, daß er Begriffe wie Tugend und Laster, gerecht und ungerecht als sinnlos verwarf. Er rät den Menschen, sich von der Vorstellung, daß etwas falsch, schlecht oder böse sein könnte, restlos freizumachen, die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen. Für eine wie auch immer beschaffene Moral bleibt da kein Platz mehr, sie schrumpft zur Pseudomoral, die entlarvt, überwunden, herabgesetzt und bekämpft werden muß. Er und seine Freunde träumen von einer Maschinerie, die nach T. S. Eliots treffendem Wort so perfekt ist, daß niemand mehr gut sein muß. Und danach sieht die Welt ja nun auch aus.






Dr. phil. Konrad Adam war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt.