© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Klein und unberechenbar
Nach Anschlägen in Wien: Ermittler durchsuchen Wohnungen von Islamisten in Deutschland / Experten warnen vor Nachahmungstätern
Peter Möller

Die Forderungen im Aktionsplan für den Kampf gegen den Islamismus in Deutschland sind eindeutig: Islamistische Gefährder müßten „konsequent und engmaschig überwacht werden“. Für eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung von „Top-Gefährdern“ müsse das Personal aufgestockt werden. Islamistische Gefährder, die trotz Haftbefehls in Deutschland aktuell frei herumliefen, müßten sofort aus dem Verkehr gezogen werden. Dazu seien offene Haftbefehle konsequent zu vollstrecken. Grundsätzlich sollten Gefährder abgeschoben werden, „soweit es sich nicht um Deutsche handelt, dies rechtsstaatlich möglich und faktisch durchführbar ist“.

Nachzulesen sind diese Punkte nicht etwa in einem Papier aus dem Innenministerium von Horst Seehofer (CSU) oder gar aus den Reihen der AfD. Nein, sie entstammen einem Strategiepapier der Grünen, das Parteichef Robert Habeck gemeinsam mit den Grünen- Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic und Konstantin von Notz als Reaktion auf die jüngsten Anschläge in Paris, Nizza, Dresden und Wien erarbeitet haben. Das Strategiepapier soll Teil eines Konzeptes der Bundestagsfraktion der Grünen werden. „Wir müssen den islamistischen Terror und die mörderische Ideologie dahinter gemeinsam entschieden bekämpfen. Bei islamistischen Gefährdern darf es null Toleranz geben“, sagte Habeck den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Es geht um den Schutz unseres friedlichen Zusammenlebens, unserer Freiheit und unserer Werte in liberalen Demokratien.“

Das ungewohnte Engagement der Grünen im Kampf gegen den vor allem von Einwanderern begangenen islamistischen Terrorismus zeigt, wie sehr die Terroranschläge der vergangenen Wochen das politische Berlin verunsichert haben. Denn jetzt ist klar: Die islamistische Bedrohung ist mit den militärischen Erfolgen gegen die Terrormiliz IS nicht aus Europa verschwunden. „Es gibt nicht mehr die eine große Organisation, die Attentäter nach Europa schickt und verheerende Anschläge verübt wie in Paris 2015 oder in Brüssel 2016. Es sind vor allem Einzeltäter. Das macht den islamistischen Terrorismus unberechenbarer, aber auch etwas weniger folgenschwer“, analysierte der Islamismusexperte Guido Steinberg die Lage im Spiegel.

Vor allem mit Blick auf die neuerliche Diskussion um die Mohammed-Karikaturen in Frankreich und die dortigen Terroranschläge warnt das Bundesamt für Verfassungsschutz vor diesem Hintergrund vor Nachahmungstätern in Deutschland. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sagte der ARD, die Sicherheitsbehörden in Deutschland müßten zur Zeit sehr wachsam sein „und einen sehr scharfen Blick auf die uns bekannten Gefährder werfen.“ Er habe in den vergangenen Jahren immer gesagt, die Gefährdungslage durch den islamistischen Terrorismus sei unverändert hoch: „Wir müssen jeden Tag auch in Deutschland mit einem islamistischen Anschlag rechnen.“

Der Verfassungsschutz hat derzeit in Deutschland 2.060 Personen der islamistischen Szene im Blick, denen zugetraut wird, einen Terroranschlag zu verüben oder sich daran zu beteiligen. Darin enthalten sind rund 620 Gefährder, die besonders auf dem Radar der Sicherheitsbehörden sind und in ihrer Gefährlichkeit ständig neu bewertet werden. Auch der syrische Flüchtling, der Anfang Oktober in Dresden einen Mann aus Krefeld erstochen und dessen Lebensgefährten schwer verletzt hatte, war von den Behörden als Gefährder geführt worden.

Die Sicherheitsbehörden reagieren auf die veränderte Bedrohungslage: Am Freitag vergangener Woche durchsuchten Polizei und Staatsanwaltschaft in Osnabrück, Kassel und im Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein vier Wohnungen von mutmaßlichen Islamisten. Die Männer im Alter zwischen 19 und 25 Jahren sollen Kontakt zum Attentäter von Wien gehabt haben, gelten aber nicht als tatverdächtig. Zwei der Männer, von denen niemand festgenommen wurde, sollen nach Angaben der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamtes den späteren Attentäter im Sommer in Wien getroffen haben. Der Mann aus Schleswig-Holstein ist nach Informationen des Spiegels einschlägig aktenkundig und soll mit seiner Familie früher in der österreichischen Hauptstadt gelebt haben. Vor zwei Jahren war er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, nachdem er vergeblich versucht hatte, mit anderen Islamisten nach Syrien auszureisen.

Neben den Gefährdern beunruhigt die Experten aber noch etwas anderes. In den vergangenen Wochen haben sich Berichte gehäuft, nach denen Schüler an deutschen Schulen ganz offen ihre Sympathie für den Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty zeigen. So habe ein muslimischer Schüler der achten Klasse eine Schweigeminute für den Ermordeten gestört und erklärt, der Lehrer habe „doch das bekommen, was er verdient hat. Der gehörte hingerichtet. Er hatte den Propheten beleidigt“, berichtet der Tagesspiegel über Erfahrungen an einer Berliner Schule.

Forderung nach mehr Grenzkontrollen

Auch bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) meldeten sich verunsicherte oder aufgeregte Pädagogen. „Wir haben vereinzelt Anrufe von Leuten, die besorgt sind, daß ihnen etwas Ähnliches wie in Frankreich droht“, sagt ein GEW-Pressesprecher dem Blatt. „Die hatten das Bedürfnis, ihre Sorgen zu thematisieren.“ Die GEW lege deshalb Wert darauf, „daß man gerade an Schulen, an denen es schwierig ist, nachhaltig Ethik, Demokratie und Toleranz unterrichtet“.

Mittlerweile scheint auch Bundeskanzlerin Merkel angesichts der aktuellen islamistischen Bedrohungslage Handlungsbedarf zu sehen. Am vergangenen Dienstag sprach Merkel mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel über eine gemeinsame Initiative gegen den Terror. Das Thema soll auch bei der EU-Innenministerkonferenz an diesem Freitag sowie beim nächsten Treffen des Europäischen Rats auf der Tagesordnung stehen. Die deutsche Ratspräsidentschaft wird dabei unter anderem Forderungen nach mehr Grenzkontrollen berücksichtigen müssen.