© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Der Einzige
75 Jahre nach Kriegsende: Joachim Kozlowski gräbt als Umbetter nach den Toten, die nie ein Begräbnis hatten
Martina Meckelein

Die zarten, ausgefransten Eiswolken stehen hoch am Himmel. Ein scharfer Wind fegt über die noch satten grünen Wiesen und zerrt das welke Laub von den Bäumen, die auf sanften Hügeln stehen. Die Sonne scheint. Die Luft ist glasklar. Der Blick von den Seelower Höhen reicht über das Oderbruch und den Strom bis weit nach Osten. „Das müssen Sie hier erst mal im Frühjahr sehen“, schwärmt Joachim Kozlowski, „ein Meer von Adonisröschen, einfach wunderbar.“ Vor 75 Jahren war das hier allerdings ein wahres Schlachthaus – soweit das Auge reichte. Die Erde bebte, russische Bomben und Granaten zermalmten deutsche Verteidigungsstellungen. Verbissener Kampf um jeden Zentimeter Erde auf beiden Seiten. Eine Million sowjetische gegen 130.000 deutsche Soldaten. Teilweise blutjung. Jahrgang ‘25, ‘26, ‘27 ist auf den Grabkreuzen der Deutschen Kriegsgräberstätte Lietzen zu lesen. Kozlowski hat viele derer, die in der größten Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden gefallen sind, bestattet. Seit zehn Jahren arbeitet er für die Deutsche Kriegsgräberfürsorge als hauptamtlicher Umbetter. Er ist der einzige.

„Joachim, das ist ein Notfall, eine Baustelle ruht.“ Kozlowski steht an einem Mittwoch Anfang November gerade bei Franz Kemmel (26) im Garten in Alt Zeschdorf, als ihn die Einsatzzentrale der Kriegsgräberfürsorge in Kassel alarmiert. Eben noch füllte er einen Plastikeimer mit Knochen. Der junge Mann hatte beim Ausschachten und Abdichten des Sockels der Hausaußenmauer Gebeine gefunden. „Da habe ich schon einen Schreck bekommen“, erzählt Kemmel. „So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Sofort alarmierte er die Polizei. Die Gebeine von vermutlich sechs Wehrmachtssoldaten hatte Kozlowski teils schon am Montag geborgen, dazu Helme, Kochgeschirr und Erkennungsmarken. Doch durch den starken Regen war es nicht möglich, weiterzuarbeiten. Immer weitere Überreste treten jetzt, nachdem das Wasser im Schacht versickert und ausgepumpt ist, zutage. „Ich muß jetzt mal schnell nach Frankfurt (Oder)“, sagt Kozlowski dem Hauseigentümer. „Ich komme nachher wieder.“

„Eine Baustelle, die ruht, heißt Geldverlust für die Gewerke. Da müssen wir schnell reagieren“, erklärt Kozlowski die Situation und gibt Gas. Sein Geländewagen, ein schwarzer Mitsubishi-Pickup, schluckt die schlechten Straßen einfach weg. „Solch ein Fahrzeug ist hier Gold wert. Ich muß durch unwegsames Gelände, auch mal einen Bagger abschleppen können. Da bringt hier ein normaler Kombi gar nichts.“ Unter einer Brücke stoppt er. „Die ist ein Neubau. Bei den Abbrucharbeiten der alten Ziegelbrücke entdeckten wir Skelette. Es waren Wehrmachtssoldaten. Alle schwer bis schwerstverletzt, wie sich später rausstellte. Die hatten sich vor den Russen in einen Tunnel, hier an der Brücke, gerettet. Die Russen gingen mit einem Flammenwerfer ran.“ Nach einer Minute des Schweigens meint er dann: „Oftmals frage ich mich, über wie viele unentdeckte Tote wir hier fahren. Es kann doch nicht sein, daß wir hier einfach auf den Toten rumtrampeln. Es kann nicht sein, daß wir heute sagen, das ist 75 Jahre her, das ist nicht mehr wichtig.“

„Tote findet man hier überall“

Während der Fahrt nach Frankfurt telefoniert er mit der Polizei und dem Bauleiter, kündigt sein Kommen an und bespricht den Ablauf. 30 Minuten später stoppt Kozlowski in der Kieler Straße. „Ich bin der Umbetter“, stellt er sich den wartenden Bauarbeitern vor. „Wo ist der Tote?“ Der Bauleiter David Liebenau von der Firma Kesslau zeigt ihm die Stelle. „Wir sollen hier die Trinkwasserleitungen anschließen. Und heute morgen hat der Bagger plötzlich einen Schädel, einen Armknochen und Rippen in der Schaufel. Da habe ich natürlich gleich die Polizei alarmiert.“ Für Liebenau ist das nichts Ungewöhnliches. „Sicherlich schon das fünfte Mal. Tote findet man hier überall, viel Volkssturm, dabei allerdings auch Munition.“

Beim Toten von der Kieler Straße ist nichts dabei. Keine Erkennungsmarke, kein einziger Knopf. Mit einem Metalldetektor, der denen vom Zoll auf den Flughäfen gleicht, prüft Kozlowski die einzelnen Erdschichten. Vorsichtig sticht er mit einem Spaten, „den habe ich mir mal in der Ukraine gekauft, der ist unverwüstlich“, in den Boden, dann schiebt er mit einer kleinen Schaufel den Sand waagerecht weg. Immer wieder dreht er Sand- und Lehmkugeln prüfend in der Hand, zerdrückt sie, um wirklich sicherzugehen, daß es kein Knopf, Orden oder eine Münze ist. Sondieren, graben. Kozlowski wird warm, die Arbeit ist körperlich anstrengend, er zieht die Jacke aus, hängt sie über den Bauzaun. Ein Minibagger der Firma rollt an, schaufelt die vorstehenden Hänge vom Rand der Grube, damit Kozlowski sicher weiterarbeiten kann und keine Erde nachrutscht.

Endlich stößt der Umbetter auf eine Beckenschaufel, dann einen Oberschenkelknochen. „Der Tote liegt horizontal, die Arme am Körper, er wurde ordentlich bestattet“, sagt Kozlowski. Er gräbt weiter, sucht Unterschenkel und Fußknochen, findet sie. „Niemals aufhören, wir bergen den ganzen Menschen, das sehe ich als meine Pflicht an. Meines Erachtens erhalte ich ihm so seine Würde.“ Später schaut er sich noch an der Baustelle die Überreste an. „Die Zähne haben keine Amalgamfüllungen, aber einen starken Abrieb. Ich vermute mal, daß er ein osteuropäischer Zwangsarbeiter war.“ Ein Bauarbeiter, der interessiert zugeschaut hat und auch treffsicher einige Knochen identifizieren konnte, scheint enttäuscht. Er habe einen Kumpel, der sucht nach toten Soldaten. „So“, fragt Kozlowski, „wie heißt der denn?“ „Nee, verrate ich nicht“, sagt der junge Mann.

„Die Nachtschicht“, nennt Kozlowski diese Grabräuber. „Das sind Polen, Deutsche, Russen und auch Holländer. Die suchen nur nach Helmen, Schädeln und Orden. Damit zerstören sie die Grablagen, eine Identifizierung der Toten machen sie für uns unmöglich.“ Ein Wehrmachtshelm bringt 150 Euro auf Ebay. „Mit Schädel noch ein Vielfaches. Es ist vorgekommen, daß die sogar extra mit Handbohrern durch Helm und Schädel bohren, um einen Kopfschuß vorzutäuschen.“ Kozlowski erzählt das mit hörbarem Widerwillen. 

Dabei benötigt der Volksbund ehrenamtliche Helfer, die recherchieren und dokumentieren. Deshalb hält Kozlowski auch Vorträge, zum Beispiel bei Militariatreffen. „Und da schwärmen dann Sammler von ihren vielen Erkennungsmarken. Manche haben 200 Stück im Setzkasten – 200 Soldaten der Identität beraubt. Das sind dann diese Leute, die uns anfragen, ob sie uns bei der Arbeit unterstützen können. Und dann wollen sie doch nur ein sogenanntes Andenken von der Grabung und Fotos. Solche Leute können wir nicht gebrauchen.“

Nach rund zwei Stunden sind die Knochen des Toten geborgen. Kozlowski dokumentiert dessen Lage mit einem Metermaß, macht Fotos für die Akten und die Polizei. Dann geht es zurück ins Gebeinhaus nach Lietzen. In der schmucklosen rechteckigen Halle trocknen die Gebeine. Erst später können sie in die schwarzen Pappsärge, die Kozlowski selber zusammenfaltet und tackert, gelegt werden. „Die schimmeln sonst.“ Auf einer kleinen Werkbank mißt er jetzt den Oberschenkelknochen des Toten aus Frankfurt (Oder) ab: 49 Zentimeter. „Danach müßte der Mann 1,76 Meter groß gewesen sein.“ Alle Informationen über ihn, wie von jedem Toten, dokumentiert Kozlowski und meldet sie an eine Abteilung des Bundesarchivs. In einer Petrischale auf dem Schreibtisch liegt seit drei Tagen eine Erkennungsmarke in einer Flüssigkeit aus Widder-Kalkfrei und ein paar Zusatzstoffen. „Welche, verrate ich nicht, ist meine Geheimrezeptur. Den Kalkreiniger kann ich aber wirklich empfehlen“, schmunzelt Kozlowski.

Ortswechsel – Halbe, 60 Kilometer südöstlich von Berlin in Brandenburg. Neben der alten schmucken Kirche ist im alten Schulhaus der Landesverband Brandenburg des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge untergebracht: Oliver Breithaupts Arbeitsplatz. Der Architekt und Landschaftsplaner ist Geschäftsführer des Volksbundes Brandenburg. Kozlowski hat eine graue Hartplastikkiste mitgebracht, in der liegen drei Stahlhelme, zwei Wasserflaschen, der Deckel eines Kochgeschirrs. „Die habe ich für eine Ausstellung zusammengestellt. Hier schauen Sie“, sagt Kozlowski, „das war ein Kopfschuß“, und zeigt auf ein kleines Loch an der rechten Vorderseite des Helms, der mit rostigen Erdanhaftungen verkrustet ist. „Der hatte keine Chance, war sofort tot.“ In den Deckel des Eßgeschirrs ist ein Buchstabe eingekratzt. „Das wurde oft gemacht. Wir haben schon Stahlhelme mit kompletten Namensschildchen gefunden.“ 

All diese Dinge erzählen Schicksale. Sind Zeugen der letzten Stunden, Minuten und Sekunden eines Menschen. Eines gefallenen Soldaten. Seit 1991 wurden 300.000 Kriegstote in Brandenburg entdeckt. Der Kessel von Halbe war ein Teil der Schlacht um Berlin. Hier fielen innerhalb von nur fünf Tagen, vom 24. bis 28. April 1945, 30.000 deutsche Soldaten, mehr als 50.000 deutsche Soldaten wurden gefangengenommen. 10.000 deutsche Zivilisten sollen hier ums Leben gekommen sein. Die Verluste der Roten Armee scheinen dagegen im Verhältnis gering: rund 20.000 Tote. „Mit den Zahlen muß man allerdings vorsichtig sein“, warnt Breithaupt. „Auf den Trecks zum Beispiel wurden ja keine Verlustlisten geführt“, ergänzt Kozlowski. „Und die Russen haben die Zahl der Gefallenen aus Propagandagründen extra niedrig gehalten.“ Aktuell liegen auf dem Friedhof von Halbe mehr als 26.000 Tote: Soldaten und Zivilisten, Kriegsgefangene und Opfer des sowjetischen Geheimdienstes NKWD aus dem Speziallager Nr. 5 Ketschendorf bei Fürstenwalde/Spree.

„Diese Gefühle müssen wir zulassen“

„Sie müssen sich die damalige Situation hier vorstellen, ich habe noch mit Zeitzeugen gesprochen“, sagt Oliver Breithaupt. „Überall Tote, die Bäume hingen voll mit Leichenteilen, darauf Schwärme von Fliegen. Es war die Aufgabe auch von Mädchen und Frauen, die Toten zu vergraben, an Ort und Stelle. Die wurden dazu von den Russen verdonnert. Dabei hatten sie große Angst, von den Russen verschleppt oder vergewaltigt zu werden. Die Russen hatten wiederum Angst vor Seuchen, immerhin drohte ein heißer Sommer. Ganz anders die Situation der Frauen aus Berlin. Aus Furcht vor dem Hungertod zog es sie wiederum nach Halbe zum „Verbuddelngehen“. Denn für das Verscharren der vielen Toten wurden sie mit Lebensmittelkarten bezahlt. Identifiziert wurden die Toten natürlich nicht.

„1948“, so steht es in den Aufzeichnungen von Ernst Teichmann, dem Pfarrer vom Waldfriedhof Halbe, „verlangte die Verwaltung des für Halbe zuständigen Landkreises Teltow von allen Gemeinden, die Kriegstoten auf Friedhöfe umzubetten.“ Die kleine Gemeinde Halbe war damit überfordert. „Die evangelische und auch die katholische Kirche wollten eine zentrale Kriegsgräberstätte errichten, was die Landesregierung in Potsdam verbot, allerdings beschloß sie, selbst einen zentralen Friedhof für die Deutschen in Halbe anzulegen.“ Es ist Teichmann zu verdanken, daß er sich frühzeitig an die Zeitzeugen wandte und um Hinweise auf die Gräber bat, er setzte sich auch für die Identifizierung der Toten ein. „In der DDR war diese Arbeit erschwert“, sagt Breithaupt. „Ein offizielles Totengedenken, eine Grabpflege und eine Angehörigenbetreuung wie im Westen durch den Volksbund, gab es hier nicht. Deshalb ist es nur privaten und kirchlichen Initiativen zu verdanken, daß viele Kriegsgräber erhalten geblieben sind.“

Zeitzeugen benötigt der Umbetter immer noch für seine Arbeit. Frauen sind ihm da lieber als Männer. „Wenn eine Frau mir sagt, da und da liegt ein Toter, ist auf ihre Aussage Verlaß.“ Beim Auffinden helfen ihm alte Meßblätter, auf denen noch die Feldwege eingezeichnet sind, die später überackert wurden, sowie Senkrechtluftbilder.

Doch manchmal kann auch der Volksbund nicht helfen. „Ein älterer Herr rief vor einiger Zeit an und fragte, ob wir ermitteln könnten, was aus seiner Mutter geworden sei“, erzählt Kozlowski. „In den letzten Apriltagen waren beide ins Forsthaus Halbe geflüchtet. Die Mutter war am Bein verletzt. Sie muß gewußt haben, daß sie stirbt. Ihren Sohn wollte sie retten. Sie kämmte ihm also die Haare und zog ihn ordentlich an. Dann befahl sie ihm, sich an die Straße zu stellen, in der Hoffnung, daß ein Mensch sich seiner annehmen und ihn aus Halbe in Sicherheit bringen würde.“ Irgendein Mensch muß in diesem Wahnsinn ein Herz gehabt haben, der Junge überlebte, doch die Mutter ist verschollen. „Es ist bei den toten Frauen ein Problem, daß wir sie gar nicht identifizieren können“, sagt Breithaupt. „Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß immerhin 30 Prozent der Toten in Halbe auf dem Friedhof Zivilisten sind. Im Grunde sollten die Frauen ein Ehrenmal bekommen, doch auf ihren Grabstein können wir nur schreiben: eine Unbekannte.“

Der Volksbund arbeitet eng mit der Bundeswehr zusammen. Bei feierlichen Begräbnissen sind Minister und Bundespräsidenten anwesend. Kränze liegen von ausnahmslos allen Parteien an den Reihengräbern. Doch der Umgang mit den eigenen Kriegstoten ist in Deutschland immer noch problematisch. „Es gibt Bürgermeister, die rufen an und sagen, schaffen Sie hier die SS weg“, erzählt Breithaupt. „Es geht doch hier nicht um Verurteilung“, meint Kozlowski, „es geht um Verlust und Trauer. Diese Gefühle müssen wir zulassen, sonst wird die Trauer um die eigenen Toten in Deutschland niemals abgeschlossen sein.“