© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Für Zahlungsunfähige in Regreß genommen
Corona-Politik der EU: Im kreditfinanzierten Wiederaufbaufonds muß Deutschland für 770 Milliarden Euro geradestehen / Droht eine transferbasierte Fiskalunion?
Dirk Meyer

Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs vereinbarte im Juli einen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR 2021 bis 2027) von 1.074 Milliarden Euro und einen Sonderhaushalt (Next Generation EU/NGEU) von 750 Milliarden Euro, der vollständig über EU-Kredite finanziert werden soll. An die EU-Staaten sollen aus diesem „Wiederaufbaufonds“ 360 Milliarden Euro als nationale Kredite und 390 Milliarden Euro als Zuschüsse vergeben werden.

Den notwendigen EU-Krediten müssen alle 27 EU-Staaten zustimmen, in Deutschland Bundestag und Bundesrat. Strittig ist, ob mit einfacher Mehrheit oder mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden muß. Die NGEU gründet auf der „Katastrophenschutzrechtsklausel“ (Art. 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU/AEUV). Allerdings stehen Hilfen für Italien, Spanien, Portugal und Griechenland im Vordergrund, die sonst wegen hoher Schulden den Zugang zum freien Kapitalmarkt verlieren dürften. Dies könnte einen Verstoß gegen das Nicht-Beistandsgebot (Art. 125 AEUV) darstellen.

Die kreditfinanzierten EU-Hilfen ersetzen eine nationale Neuverschuldung. So betragen die geplanten Zuschüsse und Kredite (jeweils in Milliarden Euro) für Italien: 81/127; Spanien: 67/72; Frankreich: 40/keine; Polen: 30/34 und Griechenland: 20/13. Die für die Zuschüsse notwendige EU-Kreditaufnahme wird nicht auf die nationale Schuldenstandsquote angerechnet. Zudem sind die Zinsen für die EU-Verschuldung geringer als die der Hochschuldenstaaten. Ihre Finanzierung wird der „Marktlogik“ (Prüfung der Kreditwürdigkeit, Risikoprämie) entzogen – was auch der Zielsetzung des Aufbauinstrumentes entspricht.

Am 18. März 2020, also vor der Aktivierung des Pandemie-Staatsanleiheankaufprogramms (PEPP) der EZB, lag der Risikoaufschlag italienischer Staatsanleihen gegenüber entsprechenden Bundesanleihen bereits bei 3,3 Prozentpunkten. Bei etwa 4,5 Prozentpunkten hätte der Verlust des Kapitalmarktzugangs gedroht, wie die Erfahrungen aus den Liquiditätskrisen Griechenlands (April 2010), Irlands (November 2010) und Portugals (April 2011) gezeigt haben.

Weitere Lasten lauern im Fall einer Liquiditätsklemme

Deutschland ist der größte Nettozahler des EU-Wiederaufbaufonds. So beziffert die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage des FDP-Abgeordneten Gerald Ullrich die Nettozahlungen auf 52,3 Milliarden Euro. Und: Der Fonds wird bis 2026 nicht 750 Milliarden, sondern aufgrund der Formulierung „zu Preisen von 2018“ wegen der Inflationsanpassung etwa 820 Milliarden Euro verausgaben.

Zwar erfolgt die Mittelaufbringung für die Kreditbedienung zunächst anteilig, wobei auf Deutschland 24 Prozent (197 Milliarden Euro) entfallen. Die Kredittilgung ist von 2028 bis 2058 vorgesehen. Bereits dieser „Normalfall“ beinhaltet Unsicherheiten für spätere Haushaltsperioden, in denen EU-Programmkürzungen, erhöhte EU-Beiträge der Mitgliedstaaten und gegebenenfalls Sonderbeiträge solventer Mitgliedstaaten erforderlich sein könnten – sollten die geplanten EU-Steuern und -abgaben nicht in dem notwendigen Umfang zur Finanzierung beitragen.

Weitere Lasten drohen bei einer „Liquiditätsklemme“. Diese könnte eintreten, wenn Darlehen nicht fristgerecht bedient werden oder wenn insolvente Staaten ihre Tilgung der EU-Anleihen nicht leisten können bzw. wollen. „Reichen die bewilligten, im Haushaltsplan veranschlagten Mittel nicht aus“, so heißt es im Finanzierungsentwurf des EU-Rats, „so stellen die Mitgliedstaaten der Kommission die hierfür erforderlichen Mittel bereit“. De facto handelt es sich hier um eine Nachschußpflicht, in der die EU-Staaten anteilig für Ausfälle in Regreß genommen werden können – das wären Eurobonds (JF 17/20) durch die Hintertür. Deutschland würde rechnerisch jährlich mit bis zu 33 Milliarden Euro haften – das wäre das Doppelte der diesjährigen Zinsausgaben des Bundes. Dies übersteigt den deutschen Haftungsanteil am Kapital des Rettungsfonds ESM in Höhe von 190 Milliarden Euro über die Jahre gesehen erheblich.

Rechnerisch beträgt die Haftungssumme etwa eine Billion Euro. Damit müßte Deutschland für die gesamte Kreditsumme von 820 Milliarden Euro, abzüglich der Nettozahlung von 52 Milliarden – also für 770 Milliarden Euro – notfalls alleine geradestehen. Offiziell sind die überzogenen Sicherheitsvorkehrungen der Kreditbesicherung und dem erstklassigen AAA-Rating geschuldet. Hintergrund könnte jedoch sein, daß die EU mittelfristig den Einstieg in einen kreditfinanzierten Normalhaushalt plant und hierfür bereits Vorkehrungen trifft, um die Widerstände der solventen Mitgliedstaaten abzuschwächen. Die transferbasierte Fiskalunion würde Realität.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

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