© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Die ewig überängstliche deutsche Kollektivseele
Eingebildete Bedrohungen
(dg)

Einstellungsvoraussetzung für eine  Professur für „Kulturforschung“ an der HU Berlin – wie überall sonst für vergleichbare Lehrstühle – dürfte wohl inzwischen sein, der eigenen Kultur prinzipiell „kritisch-ablehnend“ gegenüberzustehen. Wie sein Essay über „Kulturkampf gestern und heute“ (Merkur, 10/2020) bestätigt, ist mit Daniel Weidner, Jahrgang 1969, der insoweit ideale Bewerber auf dem richtigen Platz gelandet. Um angesichts der „Gefahr neuer Kulturkämpfe“ in Europa und den USA anhand der Geschichte zu studieren, „wie Kulturkämpfe funktionieren“, wendet er sich jenem zwischen Liberalen, Katholiken und dem preußischen Staat ausgefochtenen Streit der Bismarck-Zeit zu, der als „Kulturkampf“ zum Synonym für jede ideologisch-politische Auseinandersetzung geworden ist. Unter sorgfältiger Aussparung von dessen eigentlicher Ursache, die in dem vom katholischen Klerus angeheizten preußisch-polnischen Nationalitätenkonflikt in der Provinz Posen lag, mutmaßt der wüst psychologisierende „Dekonstruktivist“ Weidner, daß dieser auch aus einer seelischen „Kränkung der bildungsbürgerlichen Elite“ entstandene „Geisterkampf“ ein „Krieg der Imaginationen“ gewesen sei, der mittels „Bildern und Erzählungen“ gegen lediglich eingebildete Feinde geführt worden sei. Die Kollektivpsyche, die heute als Antwort auf den Islam in Europa nach einer deutschen Leitkultur rufe, reagiere in vergleichbarer Weise. Wieder richte sich ein „Wir“, zu dem „keinesfalls allein Modernisierungsverlierer“ gehörten, gegen einen bloß imaginierten Feind an einem „Angstpol“ aus, um aus „allgemeinem Unbehagen“ die „Vielfalt und Buntheit“ der pluralistischen Gesellschaft zu bedrohen. 


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