© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Amerikas Elite verliert ihre Wette
Im Kampf des Jahrhunderts scheinen die USA zu Chinas Juniorpartner abzusteigen
Dirk Glaser

Der britische, an der New Yorker Columbia-Universität lehrende Wirtschaftshistoriker Adam Tooze liebt es, seinen Lesern weite Perspektiven zu eröffnen. Daher betten seine Monographien wie jene über „Die Neuordnung der Welt 1916–1931“ (2015) und „Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben“ (2019), mit denen er sich auch einem breiteren deutschen Publikum bekannt gemacht hat, ökonomische Prozesse in globale geopolitische Konstellationen ein, um nach der Manier Hegels und Spenglers dem Weltgeist bei der Arbeit zuzuschauen. Diesem Ehrgeiz bleibt auch seine jüngste Studie über den „Kampf des Jahrhunderts“ treu. Sie gilt dem „Revival der Großmachtkonkurrenz“, die zwischen China und den USA entschieden werden wird (Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2020).

Für Tooze ist es ziemlich gleichgültig, ob die USA diesen „Kampf“ mit einem demokratischen oder republikanischen Präsidenten an der Spitze ausfechten. Denn beide Parteien hätten in den letzten drei Jahrzehnten gleichermaßen dabei versagt, das nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums den USA zugefallene Monopol der „einzigen Weltmacht“ zu behaupten. Obwohl es in den 1990ern zunächst so aussah, als könnte es glücken, den ökonomischen, technologischen und militärischen Aufstieg Chinas so unter Kontrolle zu behalten, daß die eigene Hegemonie niemals gefährdet sein würde. Das wichtigste Etappenziel in dieser Eindämmungsstrategie schien 2001 erreicht, als es den USA „nach Jahren schmerzhafter Verhandlungen“ gelang, Chinas Beitritt zur kurz zuvor gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) zu bewerkstelligen. Erst mit der Aufnahme Chinas mit seinen 1,3 Milliarden potentiellen Konsumenten sei die WTO, die die Regeln des Welthandels festlegt, „zur wahrhaft globalen Organisation“ geworden, die die große Mehrheit der Weltbevölkerung einbindet. Und der Beitritt beflügelte die Hoffnung der damals unter George W. Bush republikanischen Administration, „China zum verantwortungsbewußten Teilhaber des globalen Systems“ erziehen zu können. 

Das Weiße Haus ist nur Sachwalter der Konzerne

Wobei sich Bush weiterhin, wie sein Vorgänger, der Demokrat Bill Clinton, von der „großen Erzählung“ leiten ließ, mit der der Politologe Francis Fukuyama 1990 nicht weniger als das „Ende der Geschichte“ ausrief, da es nach der Implosion der Sowjetunion zum westlichen Gesellschaftsmodell keine Alternative mehr zu geben schien. Auch nicht in Gestalt des kommunistischen Chinas, das just vor dem Fall des Eisernen Vorhangs mit seiner „furchterregenden Repression auf dem Tiananmen-Platz“ Symptome innerer Schwäche offenbarte. „Bill Clintons Team“, das die WTO-Verhandlungen mit China vorantrieb, durfte daher auf Fukuyamas Modernisierungstheorie vertrauen, der zufolge im Reich der Mitte mit der Anpassung an die WTO-Regeln und der allmählichen Entwicklung seiner Wirtschaft nahezu automatisch das Bedürfnis nach individueller Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und repräsentativer Demokratie entstehen würde. 

Sollte sich das kommunistische Regime dieser ehernen Logik verweigern, würden die „Gesetze der Sozialwissenschaft“ es zu wirtschaftlicher Stagnation verurteilen, so wie sie der Moskauer Nomenklatura widerfuhr, die viel zu spät auf den Kurs „liberaler Reformen“ eingeschwenkt war. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Und in diesem speziellen Fall, dem „schiefgelaufenen China-Experiment“, nicht etwa, wie Donald Trump rückblickend wetterte, weil die US-Unterhändler allesamt „von den Chinesen hereingelegte Trottel“ waren. Sondern, so Tooze im Einklang mit einer neuen US-Studie zur Frühgeschichte der WTO, weil sie die Interessen der auf den chinesischen Markt und seine billigen Arbeitskräfte drängenden Konzerne von Boeing, Pepsi und General Electric bis zu Goldman Sachs und Morgan Stanley, denen IT-Giganten wie Apple folgten, nicht aber die des Durchschnittsamerikaners vertraten. Der Clinton-Regierung fiel dabei die Aufgabe zu, Washingtons harte Haltung nach dem Tiananmen-Massaker zu revidieren, um außenpolitisch „Handelshemmnisse“ zu beseitigen und gewaltige Investitionschancen zu erschließen sowie diese innenpolitisch gegen gewerkschaftliche Widerstände abzusichern.

Damit waren aus Toozes Sicht sowohl die Weichen für den vom US-Kapital angeheizten Aufstieg Chinas zur jetzt zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gestellt, als auch für die schweren sozialen Verwerfungen, die Donald Trump als Anwalt der Globalisierungsverlierer 2016 ins Weiße Haus brachten. Denn Republikaner wie Demokraten hätten sich in der China-Politik stets nur als Sachwalter der Konzerne begriffen. Nie zuvor in der US-Geschichte habe das Establishment derart brutal das Wohl des Ganzen den Interessen eines kleinen, übermächtigen Teils der Gesellschaft geopfert. Als Kronzeugen dieser Anklage zitiert Tooze Trumps Justizminister William Barr mit der Erkenntnis, in ihren neoliberalen Rauschzuständen seien Unternehmenschefs und Manager zu sehr auf ihre Aktienoptionen fixiert gewesen, um sich noch für nationale Belange einzusetzen und dafür zu sorgen, „daß das nächste Jahrhundert ein westliches bleibt“. 

Sie bezogen China in ihre Unternehmensplanungen so ein, als ob es dabei nur um private Entscheidungen gegangen wäre und nicht um eine „umfassende Neu-Verdrahtung der Weltordnung“. Diese Wette auf die Welt als einer exklusiven Spielwiese für Konzernstrategien sei offensichtlich nicht aufgegangen. Nicht zuletzt deshalb, weil aufgrund der chinesischen Exporte, die den Globalisten Milliardenprofite bescherten, insgesamt 2,5 Millionen US-Arbeitsplätze verlorengingen. Das sei zwar nicht das von Trump später beklagte „amerikanische Gemetzel“ gewesen, da es kaum mehr als zwei Prozent der Erwerbsbevölkerung traf. Aber diese 2,5 Millionen Menschen entsprachen 20 Prozent der Industriearbeiterschaft. „Das waren die legendären gutbezahlten manuellen Tätigkeiten, die für den verschwundenen amerikanischen Traum vom Arbeiterwohlstand stehen.“

Starthilfe „unpatriotischer Globalisten“ für China

Und die Opfer dieses „China-Schocks“ votierten 2016 für Trump. Zugleich dehnte China während beider Amtszeiten Barack Obamas auch dank der Starthilfe „unpatriotischer Globalisten“ seine wirtschaftliche Macht derart aus, daß es sich auf seine eigene welthistorische Mission besann, die es „mit allem in der Geschichte des Westens aufnimmt“. Für Amerikas Elite verschiebt sich daher jetzt, wo die Ära der Unipolarität definitiv endet, „die geopolitische Balance in die falsche Richtung“. Die Koexistenz im von „westlichen Werten“ dominierten WTO-Rahmen laufe langfristig sogar auf die USA als Juniorpartner eines Chinas hinaus, das sich besonders in der angeblich das Weltschicksal entscheidenden Klimapolitik wenig kompromißbereit zeigt und die Vorzüge einer neuen Generation seiner Kohlekraftwerke preist. Um ihren Abstieg abzuwenden, mangle es den USA nun an nationaler Geschlossenheit, da der Wirtschaftslobbyismus des politischen Establishments nie erlaubte, nennenswert in den Sozialstaat und das Bildungswesen zu investieren.