© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Der Hamilton-Moment ist nur ein Mythos
Warum die „Schuldenunion“ des frühen US-Finanzministers Alexander Hamilton nicht als Vorbild für die EU taugt
Lothar Höbelt

Viele Fürsprecher einer stärkeren Zentralgewalt innerhalb der EU berufen sich in letzter Zeit gern auf Alexander Hamilton, einen der Gründerväter der USA, der lange Zeit im Schatten seines fortschrittlichen Kollegen und Gegenspielers Thomas Jefferson stand. Allein schon die Persönlichkeit der beiden Jünger Washingtons bürgte für scharfe Kontraste. Auf der einen Seite der stets verschuldete Plantagenbesitzer (und Sklavenhalter) Jefferson aus Virginia, der ein radikalliberales Credo vertrat: „The best government is least government.“ Auf der anderen Seite der begabte Einwanderer Hamilton, der reich geheiratet hatte – in eine Familie holländischer Feudalherren in New York – und die USA zu einer Großmacht nach britischem Vorbild machen wollte. Wenn man hinzufügt, daß Jefferson später ein Verhältnis mit einer Sklavin hatte (der Halbschwester seiner verstorbenen Frau) und der Schwerenöter Hamilton im Duell fiel, nicht ohne vorher seine Partei gespalten zu haben – dann wird klar, das ist der Stoff, aus dem sich mühelos Hollywood-Dramen machen lassen. 

Über die Gründung der USA – nicht den Unabhängigkeitskrieg oder die Unabhängigkeitserklärung aus der Feder Jeffersons, sondern die Verabschiedung der Verfassung, die aus dem lockeren Verbund der dreizehn Kolonien erst einen Staat machte – hat Charles Beard

kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Buch geschrieben: „An Economic Interpretation of the Constitution of the United States“. Der spätere Präsident Calvin Coolidge soll den Thesen Beards in der Sache als erfahrener Politiker zugestimmt haben. Doch als Patriot fand er es nicht hilfreich – aber er hatte es immerhin gelesen: „Der Professor dürfte ja recht haben, aber warum zum Teufel veröffentlicht er so was.“ Beards These lautete nämlich, daß an einem handlungs-, vor allem aber zahlungsfähigen Zentralstaat vor allem zwei Lobbies interessiert waren, nämlich die ehemaligen Offiziere der „Kontinentalarmee“ und die Staatsgläubiger, die wenig Aussichten hatten, ihr Geld je wiederzusehen, solange die USA bloß von den milden Gaben der dreizehn Einzelstaaten lebten.

Hauptstadt Washington war Objekt im Schuldendeal

Für einen handlungsfähigen Zentralstaat plädierten außerdem die Fernhandelsinteressenten, die mit der merkantilistischen Konkurrenz verhandelten – und sich der nordafrikanischen Piraten zu erwehren hatten (Wie beginnt die Hymne der US-Marines: „From the Halls of Montezuma to the Shores of Tripolis“). Um die Zinsen für die Staatsschuld und die Pensionen oder Landzuteilungen der Offiziere begleichen zu können, wurde der Zentrale der Erlös der Importzölle eingeräumt. Der Budgetrahmen der USA betrug selbst dann noch selten mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Selbst im liberalen neunzehnten Jahrhundert kamen die meisten europäischen Staaten da locker über zehn Prozent, vor allem deshalb, weil sie meist mehr als ein Prozent ihrer Bevölkerung als Soldaten unterhielten, die USA aber gerade einmal ein halbes Promille. Oder wie Hegel einmal neidvoll-abschätzig kommentierte: Die USA seien eben noch immer kein wirklicher Staat, weil ihnen die äußeren Feinde fehlten.

Die Krönung des Programms Hamiltons stellte das berühmte Tauschgeschäft über die Schuldenunion dar. Hamilton wollte nicht bloß die Schulden des Bundes übernehmen, sondern auch gleich die aller dreizehn Einzelstaaten. Da gab es Widerstände von den Nettozahlern, den New Yorkern, die ihre Zolleinnahmen mit den anderen teilen sollten, oder Virginia, das seine Schuld schon losgeworden war und jetzt noch einmal zahlen sollte. Der Kompromiß wurde während eines berühmten „Candle light dinners“ ausgehandelt: Jefferson und Virginia stimmten dem Vorschlag zu, dafür wurde die Hauptstadt in den Süden verlegt, in die Wildnis vor der Haustüre Virginias, nach Washington. Jefferson wollte den Sitz der Regierung möglichst weit weg von all den geschäftigen Lobbyisten in den großen Städten Boston, New York und Philadelphia haben – war das jetzt Paranoia oder Voraussicht?

Eine Schuldenunion als Gründungsmythos einer Weltmacht? Ja und nein. Denn Schuldenunion ist nicht gleich Schuldenunion. Hamilton wollte die Staatsgläubiger auch gar nicht auszahlen. Die Garantie ihrer Zinsen sollte sie vielmehr dazu überreden, ihr Kapital in eine Bank der Vereinigten Staaten einzubringen. Diese Bank hatte noch tatsächlich den Zweck, gegenüber der Papiergeldinflation der Einzelstaaten die Stabilität des Dollar aufrechtzuerhalten. Außerdem sollte sie Kredite zur Verfügung stellen zur Erschließung des Westens. Da ergab sich eine gewisse Spannung mit den Interessen der Pioniere, die gewohnt waren, Land als freies Gut zu betrachten, und den Planern an der Ostküste, die diese Ressource nicht verschleudern, sondern sorgfältig hegen und pflegen wollten.

Wer einen „Hamiltonian-Moment“ für Europa heraufbeschwört, ist gut beraten, diese Analogie noch einmal sorgsam unter die Lupe zu nehmen. Denn der politische Wind blies den Erben Hamiltons zwei Generationen lang ins Gesicht. Jefferson gewann 1800 die Präsidentschaftswahlen. Das mochte noch als Zufall durchgehen, denn immerhin hatte Hamilton seine föderalistische Partei durch seinen Übereifer zuletzt auch noch gespalten. Notabene: Die Amerikaner sahen die Dinge von unten her: Als Federalists galten bei ihnen die Anhänger des Zentralstaats, aus der europäischen, hauptstädtischen Perspektive hingegen die Länderinteressen. Doch der Trend gegen die Zentrale setzte sich fort: Die Demokraten Jeffersons verloren über ein halbes Jahrhundert nur zwei Präsidentenwahlen – als ihre Gegner nämlich einen populären General aufstellten, der prompt starb und dessen Amt daraufhin beide Male einem Vizepräsidenten zufiel, der politisch ganz anders tickte. Erst mit dem Republikaner Abraham Lincoln setzte 1860 eine Schubumkehr ein – um den Preis eines Bürgerkrieges.  

Das Privilegium der Bank der USA wurde nach Ablauf der ersten zwanzig Jahre nicht verlängert. Einem zweiten Experiment erging es nicht besser. Präsident Jackson als erster Vertreter des Westens im Weißen Haus argumentierte: Warum sollten im Rahmen einer freien Wirtschaft ausgerechnet Banken über Privilegien und Monopole verfügen? Es gab in Hinkunft natürlich weiterhin Banknoten, aber kein Papiergeld als gesetzliches Zahlungsmittel mehr, das man akzeptieren mußte. Wer sich auf Banknoten einließ, war selber schuld. Der Staat aber nahm in Zukunft für Steuern und Zölle bloß Silber an. Viele Einzelstaaten – und unvorsichtige Bankiers – machten im Laufe der Entwicklung Bankrott, doch die Union wurde dadurch nicht beeinträchtigt.

Und der Auslöser – die Schuldenunion. Tja, das Vorbild ist allerdings ein Vorbild, aber es dürfte wohl ein unerreichtes bleiben. Denn die Schulden wuchsen im nächsten Krieg gegen England (1812 bis 1815) zwar noch einmal kräftig an, aber sie wurden danach binnen zwanzig Jahren restlos abgezahlt. 






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.