© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/20 / 13. November 2020

Der Flaneur
Zugfahrt mit einer Legende
Paul Leonhard

Ein Zufallstreffen. Der Mann, der mir im Zugabteil gegenübersitzt, ist ein weltbekannter Fotograf. Manche Namen behalten selbst in der inzwischen viel zu schnellebigen Medienwelt ihren Klang, auch wenn sie längst im Ruhestand sind. Der Mann ist bis an den Rand gefüllt mit spannenden Geschichten eines Reporterlebens. Und da ich Hintergrundwissen habe und ihm die richtigen Stichwörter liefere, sprudeln die Anekdoten nur so aus ihm heraus. Einmal um die halbe Welt in zehn Minuten, während draußen vertraute Dörfer, Wiesen und Wälder vorbeiziehen.

Nur, daß der Mund-Nasen-Schutz immer wieder verrutscht. Kommunikationsfördernd ist das lästige Tuch jedenfalls nicht. Aber der Mann hatte es aus der Tasche geholt und aufgesetzt, als ich ihn auf dem Bahnsteig ansprach.

Zum Abschied reiste die ganze alte Clique an, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Eigentlich tue ich derartiges grundsätzlich nicht, privat fremde Menschen anzusprechen. Aber die schwarze Kleidung des Unbekannten sowie ein paar aufgeschnappte Bemerkungen, die er gegenüber einem Gesprächspartner am Telefon machte, ließen mich vermuten, daß wir gerade von derselben Beisetzung kamen.

Eine Reporterlegende, die sich in die kleine Stadt zurückgezogen hatte, war nach einem langen aufregenden Leben friedlich im häuslichen Bett eingeschlafen und einfach nicht mehr aufgewacht. Bis zuletzt ein wacher Geist in einem zusehends verfallenden Körper. Zum Abschied reiste die ganze alte Clique an, soweit sie körperlich dazu noch in der Lage war, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Und an diesem Bahnsteig raunte mir der Alte von da oben zu: Sprich ihn an. Immer wieder, bis ich es tat. Daß sich zwei seiner Freunde, die sich nur dem Namen nach kannten, durch seinen Tod kennenlernen, war wie ein letzter, nie ausgesprochener Wunsch.

Wenn nur diese blöde Maske nicht wäre, die beim Sprechen einfach stört. Andererseits gehören wir beide altersmäßig zur Risikogruppe. Am Ende der Bahnfahrt werden die Mailadressen ausgetauscht. Wir versprechen uns, in Kontakt zu bleiben. So Gott will.