© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Bewußte Abgrenzung
Islamismus: Der Westen sehnt sich einen „Euro-Islam“ herbei – den wird es nie geben
Tilman Nagel

Als mehrere Personen im Begriff standen, sich seiner Religion anzuschließen beziehungsweise nach Medina zu kommen, um sich in seine Truppen einzureihen, soll Mohammed ihnen gegenüber folgenden Grundsatz bekräftigt haben: „Die Islamannahme schneidet alles ab, was vorher war! Die Hedschra schneidet alles ab, was vorher war!“ Alles, was aus islamischer Sicht als Verfehlung gegen die von ihm verkündete Botschaft und deren Siegeszug gegolten haben mochte, war mit diesem Schritt vor „Allah und seinem Gesandten“ getilgt.

Mit dem Übertritt zum Islam befindet sich der Gläubige nicht nur in einem neuen System von Werten und Alltagsregelungen, sondern auch in einem Gemeinwesen anderer Art. Die mit dem Übertritt anerkannten neuen Loyalitäten sind so stark, daß sie selbst engste Blutsbande außer Kraft setzen, sofern die betreffenden Personen nicht ebenfalls Muslime sind. Die Überlieferungen zur Prophetenvita bieten hierfür eindrucksvolle Belege. Sie rechtfertigen nach muslimischer Vorstellung die Geltung dieses Grundsatzes bis auf den heutigen Tag. Familienangehörige von Konvertiten wissen von leidvollen Erfahrungen dieser Art zu berichten.

Die Zugehörigkeit zum Islam begründet die Pflicht, nicht nur den Glaubensgenossen gegenüber ein Höchstmaß an Solidarität zu zeigen, sondern sich auch bewußt von allem Nichtislamischen und von den Menschen loszusagen, deren Lebenszuschnitt hiervon bestimmt ist. Muslimische Gelehrte erörtern dieses Thema in aller Breite. In den einschlägigen Handbüchern kann man das nachlesen.

So findet sich, um nur ein Beispiel zu geben, in der vielbändigen Schariaenzyklopädie, die das kuwaitische Religionsministerium zwischen 1993 und 2007 herausgegeben hat, die Aussage, daß Schuldverhältnisse, die ein Konvertit vor dem Übertritt zum Islam ohne die Absicht eingegangen war, sie zu begleichen, nun erloschen seien; wäre das nicht der Fall, dann könnte ihn das von der Annahme des Islams abhalten.

Den weltweiten Triumph des Islams herbeizuführen ist eine im islamischen Denken und Schrifttum allgegenwärtige und niemals in Frage gestellte Wunschvorstellung. In früheren Epochen legte man Konvertiten daher nahe, das „Gebiet des Krieges“, das heißt die noch nicht der islamischen Machtausübung unterliegenden Weltgegenden, zu verlassen; die Kampfkraft der Andersgläubigen dürfe nicht erhalten bleiben. Heute ist diese dringende Empfehlung überholt, denn dank der in den westlichen Ländern geltenden Religionsfreiheit ist das Ziel der Machtausübung am ehesten zu erreichen, wenn die muslimische Glaubensgemeinschaft hier Zuwachs erhält.

Das Verhältnis des Muslims zu Andersgläubigen oder Nichtgläubigen, mögen diese unter islamischer Herrschaft leben oder nicht, ist von einem tiefverwurzelten Überlegenheitskomplex geprägt, der sich auf unterschiedliche Weise manifestiert. Seine wichtigste Stütze findet er im Koran, wo es in Sure 3, Vers 110 heißt: „Ihr (Muslime) seid die beste Gemeinschaft, die je für die Menschen gestiftet wurde. Ihr befehlt, was recht ist, verbietet das Verwerfliche und glaubt an Allah. Glaubten auch die ‘Leute der Schrift’ (also die Juden und die Christen), wäre das besser für sie …“ 

Viele Male betont Mohammed im Koran, daß seine Botschaft mit der Ratio des Menschen übereinstimme. Die „Leute der Schrift“ bestreiten den Vorrang Abrahams, auf den Mohammed sich mit seiner Botschaft beruft; „dabei sind doch die Torah und das Evangelium erst nach Abraham offenbart worden! Habt ihr denn keinen Verstand?“ (Sure 3, 65) Der unanfechtbare Geltungsanspruch des Islams lasse sich mit dem Verstand begründen. Dieser Gedanke gewinnt in der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit zunehmender Erbitterung geführten Polemik gegen den Westen an Gewicht: Der Islam sei die Religion des Verstandes schlechthin und deswegen allen religiösen wie säkularen Systemen überlegen; er sei die Daseinsordnung für die Menschheit in ihrem Reifestadium. 

Ihr anzugehören bedeutet, vorbehaltlos dem Propheten zu folgen, wird den Muslimen in Sure 8, Vers 20 bis 23, eingeschärft; wer sich dem entziehe, sei wie das Vieh, dem der Verstand abgeht. Man möchte von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ sprechen, einem Begriff, der der von Herrn Seehofer jüngst eingesetzten Fahndungsgruppe „Islamophobie“ geläufig sein dürfte, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Aus durch den Koran und die Prophetenüberlieferung legitimierten Aussagen dieser Art, die das islamische Schrifttum in erheblicher Dichte durchziehen, resultiert eine schroffe Abwertung nichtislamischer Menschen und nichtislamischer Zivilisation und Politik.

In der Geschichte hat sie sich seit frühester Zeit zum Beispiel in den Bestimmungen niedergeschlagen, denen Nichtmuslime im Bereich islamischer Macht unterworfen waren und sind. Desgleichen findet sie sich in der Verweigerung eines ernsthaften, auch die eigene Position hinterfragenden Dialogs „auf Augenhöhe“ mit Andersgläubigen oder mit Verfechtern einer freiheitlich-demokratischen Staatsidee.

Weswegen eine in Verbindung mit den Islamverbänden in Gang gesetzte Imamausbildung, die sich doch auf das islamische Schrifttum stützen wird, diesem Mangel entgegenwirken soll, erschließt sich dem nüchternen Beobachter nicht. Jedenfalls wird sie den islamischen Boden, in dem der „Islamismus“ wurzelt, fruchtbar erhalten.






Prof. Dr. Tilman Nagel ist emeritierter Islamwissenschaftler der Universität Göttingen und gilt als einer der bedeutendsten Orientalisten Deutschlands.