© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Nicht alle sollen zu Hause bleiben
Paul Rosen

Der Streit in Amerika wegen möglicher Manipulationen bei den Briefwahlstimmen führt auch in Deutschland zu der Frage, wie sicher das Briefwahlverfahren hierzulande ist. Die Möglichkeit, in aller Ruhe zu Hause zu wählen und den Wahlumschlag anschließend in einen Briefkasten zu werfen, ist natürlich wesentlich bequemer und gerade in Corona-Zeiten auch weniger riskant als ein Besuch im Wahllokal. 

Das haben auch schon vor der Pandemie viele deutsche Wähler so gehalten, zumal für die Briefwahl seit langem kein Grund mehr angegeben werden muß (zum Beispiel eine Krankheit). Seit Jahrzehnten steigen die Zahlen: 1957 nutzen gerade 4,9 Prozent der Wahlberechtigten die Briefwahlmöglichkeit, 2017 waren es 28,6 Prozent.

Werden die Wahlbriefe in Deutschland rechtzeitig in den Briefkasten eingeworfen, kommen sie auch pünktlich an. Daß auch nach Urnenschluß eintreffende Stimmzettel noch berücksichtigt werden, ist ein Spezifikum des amerikanischen Systems und in Deutschland ausgeschlossen. Die Risiken hierzulande werden woanders gesehen. 

So argumentierte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in einem Bericht zur Bundestagswahl 2017, „daß die Briefwahl die Integrität der Wahl gefährden könnte, insbesondere der geheimen Stimmabgabe und daher eine Ausnahme bleiben sollte“. Gemeint ist, daß man nicht sicher sein kann, ob das Kreuz auf dem Stimmzettel tatsächlich vom jeweiligen Wähler, unbeeinflußt durch andere Anwesende, gemacht wurde oder von Angehörigen oder gar – zum Beispiel bei älteren und gebrechlichen Leuten in einem Pflegeheim – jemandem vom Betreuungspersonal.

Daher meint auch Bundeswahlleiter Georg Thiel: „Von einer reinen Briefwahl halte ich wenig.“ Auch in Corona-Zeiten sollte die Briefwahl ein „akzeptierter zweiter Weg bleiben“. Kommunalwahlen wie in Nordrhein-Westfalen hätten gezeigt, daß „eine Wahl auch unter Pandemiebedingungen problemlos und unter Einhaltung aller Hygienevorschriften abgehalten werden kann. Ich wüßte nicht, warum wir bei einer Bundestagswahl ausschließlich auf Briefwahl setzen sollten“.

Eine ganz andere Frage ist, ob eine Bundestagswahl angesichts der Pandemie vielleicht verschoben werden sollte, zum Beispiel, weil Wahlkampfveranstaltungen kaum noch möglich und Talkshows im Fernsehen kein Ersatz dafür sein können. In einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages heißt es dazu, eine Verschiebung des Wahltermins sei nur innerhalb des vom Grundgesetz gezogenen Rahmens zulässig. 

Die Wahl muß also spätestens am 24. Oktober 2021 erfolgen. Eine Verlängerung der Legislaturperiode ist nur im Verteidigungsfall möglich. Die Frage, ob Bundestag und Bundesrat die Verfassung ändern und die laufende Legislaturperiode verlängern könnten, wurde vom Bundesverfassungsgericht schon 1983 mit einem klaren Nein beantwortet.