© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Die intelligente Beute
Vor 75 Jahren wurden mit der Operation Paperclip im großen Stil deutsche Wissenschaftler in die USA gebracht
Thomas Schäfer

Das Dritte Reich war den Westalliierten wie auch der Sowjetunion militärtechnisch in einigen wichtigen Bereichen deutlich überlegen. So zum Beispiel beim Bau von Raketen, Strahlflugzeugen und U-Booten mit neuartigen Antrieben. Deshalb initiierten die Joint Chiefs of Staff, also die Vereinigten Stabschefs der US-Streitkräfte, im Juli 1945 die Geheimoperation „Overcast“. Der Zweck derselben bestand darin, deutsche Wissenschaftler und Techniker zu rekrutieren, um sich deren Wissen und Können zu sichern.

Die Namen der Zielpersonen konnte die mit der Aktion betraute Joint Intelligence Objectives Agency (JIOA) vielfach der sogenannten Osenberg-Kartei aus den Jahren 1943/44 entnehmen. Darin hatte der Leiter des Planungsamtes im Reichsforschungsrat (RFR) und spätere Chef der Wehrforschungs-Gemeinschaft des RFR, Professor Werner Osenberg, rund 15.000 Fachkräfte erfaßt, welche von der Wehrmacht freigestellt und in der kriegswichtigen Rüstungsforschung eingesetzt werden sollten. 

Auszüge aus dieser Aufstellung entdeckte ein zwangsverpflichteter polnischer Labortechniker im März 1945 in einer Toilettenschüssel in den Räumlichkeiten der Universität Bonn – offenbar war es jemandem nicht gelungen, die geheimen Papiere in der Kanalisation verschwinden zu lassen. Sie gelangten dann auf dem Umweg über den britischen Geheimdienst MI6 und das Office of Strategic Services (OSS), die Vorläuferorganisation der CIA, auf den Schreibtisch von Major Robert Staver. 

Staver fungierte als Leiter der Jet Propulsion Section innerhalb der Research and Intelligence Branch des U.S. Army Ordnance Corps, dem die Entwicklung und die Beschaffung von Waffen und Munition für die Landstreitkräfte der Vereinigten Staaten oblagen. Der Offizier erkannte die Bedeutung der Auflistung sofort und wandte sich umgehend an das Pentagon, das seinerseits alles Weitere veranlaßte, wobei das Hauptaugenmerk auf der Indienstnahme deutscher Raketenbauer lag.

Fortsetzung der Entwicklung neuer Raketentechnik

Währenddessen beschlagnahmten US-Einheiten unter dem Kommando von Major William Bromley und Major James Hamill in der unterirdischen Fabrik Mittelwerk bei Nordhausen etwa einhundert im Bau befindliche Raketen und verschifften diese in die USA. Einige Wochen später sorgten die JIOA und das U. S. Army Ordnance Corps dafür, daß der Technik auch die entsprechenden Fachleute folgten: Im August 1945 konnte Stavers Vorgesetzter Colonel Holger Toftoy 127 deutsche Raketenexperten anwerben. Sieben davon wurden am 12. September 1945 nach Fort Strong auf Long Island im Hafen von Boston (Massachusetts) gebracht, darunter auch Wernher von Braun, ehemals technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und Chefkonstrukteur der A4, des Prototypen aller einsatzfähigen Raketen mit Flüssigkeitstriebwerk. Ein Exemplar dieses Waffensystems hatte am 20. Juni 1944 sogar als erstes von Menschen geschaffenes Objekt den Weltraum erreicht.

Der Vorhut mit von Braun folgte am 19. November 1945 das Gros der übrigen „Paperclip Boys“ – so hießen die gefragten Fachkräfte im Jargon der JIOA, welche die Akten der relevanten Personen aus den Zusammenstellungen von Osenberg beziehungsweise Staver mit aufgesteckten Büroklammern zu kennzeichnen pflegte. Gleichzeitig mutierte die „Operation Overcast“ nun zur „Operation Paperclip“.

Die deutschen Experten, welche vor 75 Jahren in die USA kamen, führten ihre Entwicklungsarbeit zunächst in Fort Bliss (Texas) und den White Sands Proving Grounds in New Mexico fort. Vom April 1946 bis zum Oktober 1951 wurden insgesamt 66 der in Thüringen sichergestellten A4-Raketen zu Versuchszwecken gestartet, während die US-Regierung gleichzeitig noch diverse weitere deutsche Wissenschaftler verpflichtete, bis deren Zahl etwa tausend erreichte. So kamen beispielsweise nun auch Ingenieure und Chemiker der I.G. Farben sowie des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kohlenforschung, die ihr Know-how hinsichtlich der Herstellung synthetischer Kraftstoffe weitergaben. Ebenso schöpfte man das Wissen der Fachleute des Dritten Reiches in bezug auf innovative Luftfahrttechnik, Kernforschungsanlagen, chemische und biologische Waffen sowie Verschlüsselungsmaschinen ab. Und die Briten sicherten sich ihrerseits so manchen deutschen Marinetechniker. 

Prägend für technischen Fortschritt im Kalten Krieg

Die Geheimhaltung um die „Operation Paperclip“ endete im September 1946, als Präsident Harry S. Truman eine Grundsatzerklärung zum nunmehrigen „Project Paperclip“ unterzeichnete, womit die irritierte Öffentlichkeit jetzt offiziell erfuhr, daß sich zahlreiche ehemalige „Nazi-Wissenschaftler“ im Lande befanden und für die Regierung beziehungsweise die Streitkräfte der Vereinigten Staaten arbeiteten. Die UdSSR, welche ebenfalls bereits einige frühere Mitarbeiter von Brauns und weitere Experten eingespannt hatte, reagierte am 22. Oktober 1946 mit der „Operation Ossoawiachim“, in deren Verlauf mehr als 2.500 deutsche „Spezialisten“ mitsamt ihren Familien aus der Sowjetischen Besatzungszone nach Osten verschleppt und hernach zur Mitwirkung an diversen UdSSR-Rüstungsforschungsprojekten gezwungen wurden.

Hierdurch zeichneten Wissenschaftler und Ingenieure aus dem besiegten Dritten Reich maßgeblich für den militärtechnischen Fortschritt auf seiten der beiden Supermächte während der Zeit des Kalten Krieges verantwortlich. Dabei legten sie nebenher auch den Grundstein für die spektakulären Raumfahrtprogramme der USA und der Sowjetunion, welche den Menschen zuerst ins All und dann auf den Mond brachten sowie die Erforschung unseres Sonnensystems und der Weiten jenseits von dessen Grenzen ermöglichten.