© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/20 / 20. November 2020

Der Müllberg wächst und wächst
Trotz ansehnlicher Teilerfolge läuft die deutsche Kreislaufwirtschaft noch immer nicht rund
Christoph Keller

Der Corona-Lockdown bringt die Gastronomie erneut in Existenznot. Restaurants und Cafés versuchen, den Umsatzausfall mit einem Liefer- und Abholservice zumindest teilweise auszugleichen. Ab dem 3. Juli 2021 ist dieser Ausweg weitgehend versperrt: Besteck, Teller, Trinkhalme, Rührstäbchen aus Plastik sowie Getränkebecher, Imbißverpackungen und Essensbehälter aus Styropor sind dann verboten. Die Bundesregierung setzt damit eine EU-Verordnung um, der sie 2019 in Brüssel begeistert zugestimmt hat (Richtlinie 2019/904).

Im Bundestag votierten nur AfD und FDP gegen das radikale Plastikverbot. Am 6. November hat auch der Bundesrat zugestimmt, denn der „Kampf gegen die Wegwerf-Gesellschaft“ ist längst keine grüne Marotte mehr, sondern genießt zumindest im „biodeutschen“ Bevölkerungsanteil eine überwältigende Zustimmung. Doch verbales Bekenntnis und Lebenswirklichkeit passen nicht zusammen: 2018 habe der Verpackungsmüll ein neues Rekordhoch von 18,9 Millionen Tonnen erreicht, das ergebe rechnerisch fast fünf Zentner pro Kopf und Jahr, mahnt das Umweltbundesamt (UBA).

Papier landet nur noch selten im Restabfall

Und auf der jüngsten „Mehrweg-Konferenz“ der umstrittenen Deutschen Umwelthilfe (DUH) parierte Florian Pronold, Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, diese Entwicklung mit einem typischen Regierungsrezept: Der Trend zur Online-Bestellung lasse sich auch nach Corona nicht zurückdrehen, aber Quoten für Mehrwegverpackungen könnten diesem am stärksten wachsenden Müllsektor Zügel anlegen. Schließlich habe sich auch die Mehrwegflasche gegen den anfänglichen Widerstand als ökologisch vorteilhafteste Lösung durchgesetzt. Pronolds Optimismus, die Verpackungsmüllawine mittels Kreislaufwirtschaft zu stoppen, stützt sich auf wissenschaftliche Expertise: Mit dem „Dualen System“ – weg von der Beseitigung, hin zur Wiederverwertung – sei der Königsweg der Abfallbehandlung beschritten worden, glaubt Christina Dornack, Professorin am Institut für Abfall- und Kreislaufwirtschaft der TU Dresden (Geographische Rundschau, 7-8/20). Der Rest­abfallanteil im Hausmüll sei von 90 Prozent (1990) auf heute lediglich 30 Prozent gesunken. Und die Recyclingquote von 70 Prozent ließe sich durch das Verpackungsgesetz von 2019 sogar noch erhöhen.

Allerdings: Nur bei der Verwertung von Altpapier habe man innerhalb von drei Jahrzehnten mustergültig „viel erreicht“, obwohl sich die Papierproduktion seitdem von 12,8 auf 23 Millionen Tonnen fast verdoppelte. Doch im Unterschied zu den Verpackungen landet Papier selten im Restabfall. Altpapier ist jetzt der wichtigste Rohstoff der Papierindustrie, die daraus 62 Prozent ihres Bedarfs deckt. Zeitungen bestehen sogar zu 100 Prozent aus Altpapier, was zudem den Einsatz von Primärenergie vermindert.

Bei den 14,2 Millionen Tonnen an Bioabfällen sei das Ende der Fahnenstange noch nicht in Sicht. Auf eine Totalerfassung müsse man trotzdem verzichten, denn einerseits werde viel selbst kompostiert, andererseits dürfte das radikale Auskämmen gerade des ländlichen Raums ökologisch und ökonomisch unvertretbar sein. Ein solches Hindernis bestehe glücklicherweise nicht bei Glasabfällen, deren Recyclingquote derzeit bei immerhin 80 Prozent liege, und für 2022 sei ein Anstieg um weitere zehn Prozent als realistisch einzuschätzen.

Bei Metallen und Kunststoffen laufe „das Recycling bisher weniger gut“, klagt Dornack. So können momentan bei Massenmetallen nur zwischen acht (Zink) und zwanzig (Eisen, Kupfer) Prozent aus Abfallstoffen zurückgewonnen werden. Bei nur einem Prozent liege die Ausbeute bei den „kritischen Metallen“ wie Indium und Lithium. Dagegen mute die Verwertungsbilanz beim Kunststoffabfall regelrecht phantastisch an. In diesem Sektor stieg die Abfallmenge um 3,5 Prozent jährlich.

Plastikmüll wird „energetisch verwertet“

Der Plastikmüllberg erhöhte sich von 2,8 (1994) auf 6,15 Millionen Tonnen. 99,4 Prozent gelten dabei als „verwertet“. Doch damit, stellt Dornack klar, werde nur eine semantische Nebelkerze gezündet. Dies heiße nämlich nicht exklusiv wiederverwertet, sondern auch letztmalig verwertet. Von den 6,15 Millionen Tonnen Kunststoffabfällen wandern 52,7 Prozent in Abfallverbrennungsanlagen, Zement- und Kohlekraftwerke, um dort nicht stofflich, sondern „energetisch verwertet“ zu werden.

Auf diese Unterscheidung macht der auf „Geographien des Konsums und der Entsorgung“ spezialisierte Postdoktorand Yusuf Idies (Institut für Geographie/Münster) aufmerksam. Die Kreislaufwirtschaft sei ein Ensemble komplexer Verfahren, das durch „populäre Darstellungen von Recyclingtechnologien“, insbesondere im Einsatz bei der Plastikmüllreduktion, als allzu reibungslose Umwandlung von Altmaterial in neue Güter simplifiziert werde. Tatsächlich dürften nur etwa 15 Prozent der Plastikabfälle im strengen Sinne wiederverwertbar sein.

Einer deutlichen Ausweitung dieser Quote seien enge Grenzen gesteckt. Hänge die doch von möglichst reinen Stoffströmen ab, wie sie real nicht existieren. Denn was gewöhnlich anfalle, müsse aufwendig gereinigt und nach Plastiksorten, Farben und Qualitäten sortiert werden. Viele gängige Verpackungsmaterialien setzen sich aus unterschiedlichen Polymerschichten zusammen und seien nach derzeitigem Stand der Technik von vornherein nicht trennbar. Sortenreine, aber stark verunreinigte oder kontaminierte Verpackungen wiederum könnten zwar verwertet werden, aber aufgrund des hohen Arbeitsaufwandes gelinge eine rentable Aufbereitung nur in Niedriglohnländern.

Daher wächst der internationale Müllverkehr. Sprich: Kunststoffrecycling auf heutigem Niveau sei eine „äußerst wege- und energieintensive Technologie“. Die stoße bei „kritischen Metallen“, wie schon von Dornack eingeräumt, und bei elektronischem Abfall wie Computern, Handtelefonen, Tablets, Kühlschränken oder Waschmaschinen („E-Waste“) definitiv an Grenzen des Machbaren, so Idies. Selbst eine verbesserte Verwertungseffizienz ist nicht ohne Tücken. Erwiese sich doch die Aussicht auf leichtere Entsorgung dann als Bumerang, wenn sie zu enthemmtem Konsum ohne schlechtes Gewissen verführe.

Nicht, wie vom SPD-Staatssekretär Pronold avisiert, in der Perfektionierung des planwirtschaftlichen Mehrweg-Systems liegt für Idies also ein Ausweg aus der längst globalisierten „Müllkrise“. Sondern in der strikten Müllvermeidung durch Herstellung langlebiger, leicht reparabler Produkte. Und im Bewußtseinswandel, als dessen Resultat sich Idies die „Konstituierung verantwortlicher Konsumsubjekte“ wünscht, wie es im hölzernen Titel seiner Doktorarbeit mit unüberhörbar Orwellschem Zungenschlag heißt.

„Aufkommen und Verwertung von Verpackungsabfällen“ (UBA-Texte 166/20)

 www.umweltbundesamt.de