© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

„Ich nenne das Verrat“
Der junge Peter Backfisch stürzte sich vor fast vierzig Jahren voller Idealismus in die Sozialarbeit. Heute macht der Ex-Vorstandsreferent einer der größten deutschen NGOs im Sozialwesen der Branche schwere Vorwürfe: Abzocke, Bereicherung und Ideologisierung
Moritz Schwarz

Herr Backfisch, was haben Sie gegen soziales Engagement im Dienst der Gesellschaft?

Peter Backfisch: Nichts, im Gegenteil, das war für mich damals das Motiv, einen Beruf in der Sozialwirtschaft zu ergreifen. Heute aber kann ich nur lachen, wenn ich lese, daß sogenannte NGOs ... 

„Non-governmental Organizations“, zu deutsch: Nichtregierungsorganisationen. 

Backfisch: ... kein Gewinnziel verfolgen. Sondern sich angeblich ganz selbstlos für soziale und gesellschaftliche Zwecke einsetzten. Das ist ein Trugbild! 

Inwiefern?

Backfisch: Alle NGOs haben Gewinnziele, jede Bilanz wird mit Umsatz und Gewinn ausgewiesen, und beide Positionen müssen schwarz sein. Geschäftsführer, die das nicht erfüllen, fliegen raus.

Warum sollten nicht auch wohltätige Organisationen vernünftig wirtschaften?

Backfisch: Wenn es so wäre! Aber darum geht es nicht, sondern darum, Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer zu bevorteilen, Mitarbeiter zu benachteiligen. 

Zum Beispiel?

Backfisch: Die in die Schlagzeilen geratene Arbeiterwohlfahrt Frankfurt und Wiesbaden. Seit 2019 mußten dort drei Geschäftsführer – ein regelrechter Familienclan: Ehemann, Ehefrau, Sohn – wegen phantastischer Jahresgehälter von bis zu 300.000 Euro zurücktreten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ein Insolvenzverfahren läuft. Gerade wurde den Mitarbeitern das Weihnachtsgeld gekürzt. Einem 33jährigen SPD-Nachwuchspolitiker zahlte die dortige AWO rund 100.000 Euro im Jahr plus Dienstwagen, der Tochter eines CDU-Stadtrats 3.400 Euro Gehalt, ohne daß eine Gegenleistung nachweisbar war. Und eine nur 30jährige SPD-Stadträtin wurde  zur Abteilungsleiterin der AWO gemacht, obwohl sie keine Berufserfahrung hatte. Die Ehefrau des Frankfurter SPD-OB verdiente dort nach nur zwei Jahren so viel wie sonst erst nach 17 Jahren üblich – natürlich auch mit Dienstwagen, den sie sogar im Erziehungsurlaub nutzte. Dies ist nur eine Auswahl der umfangreichen Selbstbedienung. Der Wiesbadener AWO-Chef trat mit den treffenden Worten zurück, all das sei „nur schwer mit den Grundwerten eines Sozialverbandes (zu) vereinbaren ... der aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen ist“.

Schwarze Schafe gibt es überall. 

Backfisch: Von wegen „Schwarze Schafe“: Auch wenn es in Frankfurt und Wiesbaden besonders schlimm gewesen sein mag, Verhältnisse dieser Art sind in der Branche weit verbreitet. 

Sie waren mehr als 37 Jahre beim „Internationalen Bund“ – bis 1995 „Internationaler Bund für Sozialarbeit / Jugendsozialwerk e.V.“ – beschäftigt.

Backfisch: Ja, der IB ist mit 14.000 Mitarbeitern und etwa 300 Einrichtungen einer der größten freien Träger – oder NGO, wie man heute sagt – für berufliche Bildung in Deutschland und führt unter anderem Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit durch. Bis 1996 war ich als Sozialarbeiter an einem IB-Bildungszentrum, dann Referent des Vorstands, ab 2007 abgeordnet als Generalsekretär des „Europäischen Verbands Beruflicher Bildungsträger“ – eines Netzwerks aus IB und 49 europäischen NGOs der Berufsbildung. Ich  habe also lange hinter die Kulissen geschaut und sage: Wüßte Carlo Schmid, der 1949 den IB gegründet hat, was dort heute vor sich geht, würde sich die SPD-Ikone im Grabe umdrehen! Zum Beispiel hat der Bund, ebenso wie immer mehr NGOs, den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes gekündigt. Statt dessen kreiert man eigene Tarifwerke, verbunden mit Gehaltskürzung der Mitarbeiter bis zu zwanzig Prozent. 

Die Kosten steigen eben, jeder muß sparen. 

Backfisch: Das ist, was Ihnen der IB und andere erzählen und was sie mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen begründen. Tatsächlich kam es dennoch zu Kündigungen – mit Sparen hat das nichts zu tun.

Sondern?

Backfisch: Während die Gehälter einfacher Mitarbeiter gekürzt werden, beziehen die Vorstände großer NGOs, wie des IB, durchschnittlich zwischen 150.000 und 200.000 Euro im Jahr. Ein weiterer großer Kostenfaktor sind Reisen zu europäischen Netzwerkstreffen, die gerne auch mal etwa in Lissabon, Athen, Istanbul oder Malta veranstaltet werden, statt an unattraktiveren, aber günstigeren Orten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Internationale Begegnungen sind wichtig, aber danach muß es eine Evaluation, also Ergebniskontrolle geben. 

Und das passiert nicht? 

Backfisch: Nein, denn die Konferenztage bestehen nur aus Grußworten und Reden, deren sozial- und europapolitischer Mehrwert gleich null ist. Die meisten Treffen finden in Wahrheit nur statt, um zu reisen, während die Kosten, inklusive Abendbuffet und sämtlicher Getränke, übernommen werden. Es ist sogar vorgekommen, daß NGOs ihre Geldgeber, also Vertreter der Arbeitsämter, Kammern, politische Parteien, zu den Reisen einluden! Jene also, die ihre Fördergelder, nicht nur für Reisen, sondern generell, zu bewilligen haben. Wie bei den Konferenzen, so auch beim internationalen Jugendaustausch: Dessen hehrer Zweck ist, daß Jugendliche internationale Kompetenzen erwerben. Was vor allem für solche aus „prekären sozialen Verhältnissen“ wichtig ist, die sonst kaum die Chance haben, ins Ausland zu reisen. Doch auch hier fehlt jede Evaluation, Folge: Oft sieht der „Austausch“ so aus, daß die deutschen, französischen etc. Jugendlichen während der Reise unter sich bleiben, statt sich zu mischen. Und man kaum etwas tut, das Problem zu lösen. Allein die Betreuer freuen sich, kostenlos zu reisen.

Sie haben in diesem Zusammenhang von „Verrat“ gesprochen – warum?

Backfisch: Weil es egal zu sein scheint, daß der Jugendaustausch seine Ziele nicht erreicht: sozial schwache Jugendliche also nicht die Förderung erfahren, die ihnen doch weiterhelfen soll. Ebenso bei der beruflichen Ausbildung: Als ich mit der beruflichen Bildungsarbeit begonnen habe, erhielten Jugendliche im IB eine 3- bis 3½jährige Vollausbildung, am Ende mit Gesellenbrief. Heute dagegen haben sogenannte Qualifizierungsmaßnahmen nur eine kurze Dauer, und es gibt nur noch eine Teilnahmebescheinigung statt eines Ausbildungsabschlusses. Das hat mit den Hartz-IV-Reformen der Schröder-Regierung begonnen. 

Die können Sie aber wohl kaum den NGOs anlasten. 

Backfisch: Stimmt. Wohl aber, daß es den NGOs seitdem nicht mehr um die Vermittlung von Bildungsinhalten geht. So ist es etwa völlig gleichgültig, was die Teilnehmer in den Qualifizierungsmaßnahmen machen: manche schlafen, lesen Zeitung oder spielen Computerspiele. Alles nicht versteckt, sondern ganz offen – es spielt keine Rolle! Denn es geht allein darum, die Anwesenheitsliste abzuhaken und beim Job-Center abrechnen zu können. Und das nenne ich Verrat! 

Merken die Job-Center das nicht?

Backfisch: Die sind klammheimlich sogar froh, weil sie die Arbeitslosen so nicht in der Statistik führen müssen. 

Die Teilnehmer sind erwachsen und selbst dafür verantwortlich, etwas zu lernen. 

Backfisch: Richtig, aber man muß bedenken, daß viele aus einem sozial problematischen Umfeld kommen und nicht die nötige Disziplin aufbringen. Zudem werden auch Leute in Hartz-IV-Maßnahmen gesteckt, die da eigentlich fehl am Platz sind. Etwa kann man einem 55jährigen aus der Bauwirtschaft nach dreißigjährigem Berufsleben nicht mit Computerschulung kommen. Doch all das kümmert nicht, denn tatsächlich sind die NGOs völlig desinteressiert am Schicksal ihrer Klientel. In meinen Augen ist die Förderung „dank“ der sozialpolitischen Fehler des Staates zur Abzocke zum Vorteil der Träger auf Kosten der Steuerzahler geworden und gegen die Interessen der Betroffenen gerichtet.

Es muß sich doch irgendwann bemerkbar machen, wenn immer mehr prekäre Jugendliche nicht mehr qualifiziert werden.

Backfisch: Früher wäre das der Fall gewesen, als die Vollausbildungsmaßnahmen noch Domäne aller Bildungs-NGOs waren. Heute aber interessiert es in der Politik kaum noch jemanden, ob die Jugendlichen erfolgreich ins Berufsleben starten. Der IB etwa bezeichnet sich traditionell als „Anwalt der Hilfsbedürftigen“. Doch bezogen auf die ursprüngliche Klientel deutsche Jugendliche wird dies heute nicht mehr geäußert. Denn seine Maßnahmen sind heute vor allem auf Spracherwerb und Integration ausgerichtet. Die Klientel verschiebt sich mehr und mehr hin zu Migranten.

Wieso?

Backfisch: Zum einen, weil heute die staatliche Förderpolitik das so verlangt. Zum anderen, weil in keiner anderen Branche eine so durchgängig linksideologische Hegemonie eingezogen ist. Das Schlimme dabei ist aber nicht nur der Verrat an den sozial schwachen deutschen Jugendlichen, sondern auch daß die Sprach- und Integrationskurse oft ebenso desinteressiert gehandhabt werden – auch hier kann ungeniert geschlafen, Zeitung gelesen oder gedattelt werden. Und auch hier wird der Erwerb der Lehrinhalte nicht überprüft.

Sprich Teilnahmebescheinigung für jeden, egal ob er etwas gelernt hat oder nicht?

Backfisch: Genau, die für die Integration so wichtige Vermittlung der vielgepriesenen „interkulturellen Kompetenz“ findet oft gar nicht statt. Ich habe erlebt, daß in einem einstündigen Deutschkurs kein einziges deutsches Wort gefallen ist!

Eben sprachen Sie von „linksideologischer Hegemonie“. Was meinen Sie? 

Backfisch: Mittlerweile wird in den NGOs die gesamte linke Agenda durchgedrückt: Es muß gegendert und „Fridays for Future“ unterstützt werden, bis hin zur bezahlten Freistellung der Mitarbeiter für FFF-Demos! Da läßt man sogar von der Bundesagentur für Arbeit bezahlte Maßnahmen einfach entfallen. 

Wird das nicht kontrolliert?

Backfisch: Die Behörden sehen einfach darüber hinweg – ist doch fürs Klima!

Man kann nicht sagen: „Ich habe kein Interesse.“ Oder gar: „Ich bin dagegen!“ 

Backfisch: Doch, aber ich würde es Ihnen nicht raten. Wer Gender oder Klima ernsthaft anzweifelt oder widerspricht, kriegt Druck. Das gilt auch für Glaubenssätze wie: Asyl in Deutschland ist immer begründet – weil „Flucht“ vor „menschenunwürdigen“ Zuständen. Einwanderung ist immer bereichernd. Es kommen nur Hochqualifizierte, die wir dringend brauchen. Migranten hier sind grundsätzlich Opfer der Verhältnisse. Und Schiffbrüchige müssen immer nach Europa gebracht werden, alles andere ist menschenrechtswidrig. Als einmal eine Kollegin einwandte: „Man könnte sie doch auch nach Libyen zurückfahren“, wurde sie als nicht zurechnungsfähig hingestellt. Das ist das wahre Gesicht der postulierten „Vielfalt“.

Haben Sie all dem widersprochen? 

Backfisch: Natürlich, ich galt als streitbar, und als alter Hase hatte ich auch mehr Spielraum als junge Kollegen. Man gewährte mir allerdings wohl vor allem deshalb Narrenfreiheit, weil ich wenige Jahre vor der Rente stand, Motto: Der ist eh bald weg! Dennoch mußte auch ich oft „die Faust im Sack“ ballen, wie man sagt. Etwa mahnte ich nach der Silvesternacht von Köln, über diese Art Übergriffe müsse nun doch mal gesprochen werden. Von wegen: Mit dem Satz „Bevor wir darüber reden, reden wir zuerst über Übergriffe deutscher Männer auf Frauen!“ wurde klargemacht, daß dazu zu schweigen sei. Nicht einmal, daß Migration die Sozialsysteme überlastet, gilt als zulässige Meinung, sondern wurde als „rechts“ gebrandmarkt. Und obwohl man Gewalt offiziell unbedingt ablehnt, wurden Meldungen über gewalttätige Aktionen der Antifa von der Mitarbeiterschaft ignoriert oder gar wohlwollend betrachtet. In Diskussionen gab es sogar Verständnis für diese, schließlich treffe es das „rechte Milieu“, und manche Kollegen nannten das gar „wehrhafte Demokratie“.

Ihr Fazit? 

Backfisch: Die Branche war links seit ich denken kann. Aber früher im sozialdemokratischen Sinn: Lehren und Lernen in der Tradition der Arbeiterbildung. Das hat sich völlig geändert: Mit der Asylkrise 2015 brach der zuvor langsame Wandel von sozialdemokratisch zu linksgrün endgültig durch: Sozial Schwache wurden als Klientel nun völlig durch Migranten, Frauen, LGBTQ und „People of Color“ ersetzt. Andere Meinungen gelten seitdem als „antidemokratisch“ und werden bekämpft – und das eigene Personal für politische Zwecke eingespannt. Die Schwerpunktänderung der sozialen NGOs ist bereits so weit fortgeschritten, daß ihre Reform wohl nicht mehr möglich ist. Dafür müßte der Zeitgeist sich ändern!     






Peter Backfisch, der Diplom-Sozialarbeiter war über 37 Jahre beim Internationalen Bund e.V., dem führenden deutschen Träger für berufliche Bildung, beschäftigt: 2001 bis 2014 leitete er dort das Referat „Internationale Arbeit“ und absolvierte Einsätze im Nahen Osten, Afrika, Rußland und auf dem Balkan. Danach war er bis zum Renteneintritt im Herbst 2019 europapolitischer Referent des Vorstandschefs. Zudem fungierte er 2007 bis 2014 als Generalsekretär des „Europäischen Verbands beruflicher Bildungsträger“. Geboren 1954, wuchs er in Heidelberg auf.   

Foto: Jugendliche: „Heute interessiert es kaum noch jemanden, ob junge Leute erfolgreich ins Berufsleben starten ... Die Fördermaßnahmen (der NGO genannten freien Träger) sind inzwischen vor allem auf Sprachkurse und Integration gerichtet. Die Klientel verschiebt sich ... Jugendliche und sozial Schwache wurden durch Migranten, Frauen, LGBTQ und ‘People of Color’ ersetzt“ 


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