© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Ausgeschnipselt
Ende einer Ära: 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution wandern die Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv / Bundestag bekommt SED-Opferbeauftragten
Jörg Kürschner

Nahezu geräuschlos hat der Bundestag in der vergangenen Woche weitreichende Beschlüsse über die Aufarbeitung der SED-Diktatur gefaßt. Am 17. Juni 2021, dem Jahrestag des Volksaufstands in der DDR vor dann 68 Jahren, werden die 111 Kilometer Stasi-Akten ins Bundesarchiv wechseln, die Stasi-Unterlagenbehörde wird aufgelöst, anstelle des bisherigen Bundesbeauftragten soll es einen beim Bundestag angesiedelten Ansprechpartner für die Opfer der SED-Diktatur geben. Dies sei kein Schlußpunkt, „sondern ganz im Gegenteil, es ist die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschen Vorzeichen“, betonte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) im Bundestag. Die Akten blieben weiterhin zugänglich, könnten sogar digital eingesehen werden.

Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD hatten sich der Unterstützung der oppositionellen FDP und Grünen versichert, um die politische Basis für diesen folgenreichen Schritt zu verbreitern. Dementsprechend verlief die abschließende Debatte im Bundestag; schulterklopfend und eine Spur zu selbstzufrieden. Noch nicht einmal die SED-Nachfolgepartei Die Linke hatte ernsthafte Einwände, begründete ihre Enthaltung mit einer ungeklärten „Leerstelle“, der Finanzierung des Vorhabens.  

Nur wenige Stasi-Akten wurden rekonstruiert 

Die fraktionsübergreifende Harmonie wurde nur gestört durch den AfD-Abgeordneten Götz Frömming, der ein weithin ausgespartes Tabuthema ansprach. „Wie und wann werden zum Beispiel die rund 15.000 Säcke mit zerrissenen Stasi-Akten endlich rekonstruiert und gesichert? Seit 2016 ist offenbar keine einzige Akte mehr elektronisch zusammengefügt worden“, fragte er. Eine Antwort erhielt Frömming nicht. Immerhin räumte der ostdeutsche CDU-Abgeordnete Christoph Bernstiel später ein, es sei „auch 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution nicht gelungen, diesen wichtigen Teil der DDR-Geschichte zu rekonstruieren“.

Darauf hatten in der Vergangenheit mehrfach ehemalige DDR-Bürgerrechtler hingewiesen und den seit 2011 amtierenden Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, gemahnt, die Wiederherstellung der Stasi-Schnipsel zur Chefsache zu machen. Frömming zitierte das Berliner Aufarbeitungskomitee „15. Januar“, das schwere Vorwürfe gegen Jahn erhebt. „Die Jahn-Behörde täuscht die Öffentlichkeit und das Parlament seit Jahren über den faktischen Stillstand der virtuellen Rekonstruktion.“ Da fast alle Experten beim Fraunhofer-Institut das Team verlassen hätten und der langjährige Projektleiter zum Jahresende in den Ruhestand gehe, bleibe die Zukunft der zerrissenen Akten ungeklärt.

Daran ändert auch der Gesetzestext nichts, beschreibt er doch die künftigen Aufgaben des Bundesarchivs lapidar und ohne konkretes zeitliches Ziel: „Rekonstruktion und Erschließung von zerrissenen Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes“. Auch wenn es in der Begründung des Gesetzentwurfs heißt, „entsprechend wird dem Bundesarchiv konkret die Aufgabe der Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen übertragen“, bleiben erhebliche Zweifel an der Umsetzung.

Zweifel, die in der Aufarbeitungsszene geteilt werden. Lutz Rathenow, sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, bedauert, daß das Projekt eingestellt worden ist. Der frühere DDR-Dissident, dessen Stasi-Akten 15.000 Seiten umfassen, befürchtet zudem, daß die politische Bildung über die DDR-Diktatur mit dem Wechsel ins Bundesarchiv künftig zu kurz kommt. Und Christian Booß, Vorsitzender des Berliner Aufarbeitungskomitees „15. Januar“, beklagt seit langem den Stillstand der Rekonstruktion der Akten. In das bereits 2008 gestartete Projekt zum virtuellen Aktenpuzzle sind bisher sechs Millionen Euro geflossen, so daß das Fraunhofer-Institut eine Software entwickeln konnte. Doch gab es keine funktionsfähigen Scanner. Rekonstruiert wurde bisher nur der Inhalt von 520 Säcken. Vor einigen Jahren wurde das Projekt gestoppt. „Die computergestützte Zusammensetzung von Stasi-Akten ist so gut wie tot“, sagt Booß und gibt der Stasi-Unterlagenbehörde die Schuld. Gegen die Zusammensetzung von Akten, die Stasi-Mitarbeiter in der Wende zerrissen hatten, um Beweismaterial zu vernichten, hätten sich in der Verwaltung der Behörde schon immer Widerstände geregt. Betroffenenakten seien so gut wie nicht rekonstruiert worden, berichtet der Stasi-Experte, der früher selbst in der Behörde gearbeitet hat. „Die Jahn-Behörde hat das Projekt versanden lassen, daß das Getriebe zum Stehen gekommen ist.“ 

Roland Jahn, der einstige DDR-Bürgerrechtler, scheidet spätestens im Juni 2021 aus dem Amt, geht in den Ruhestand. Wer ihn fragt, ob die Rekonstruktion weitergehe, erhält stets die gleiche Antwort. „Ja, das ist in dem neuen Gesetz so festgeschrieben. Die Stasi darf nicht bestimmen, in welche Unterlagen wir gucken können und in welche nicht.“ Was künftig mit den zerrissenen Akten geschieht, wird wesentlich davon abhängen, wer der neue vom Bundestag zu wählende SED-Opferbeauftragte wird.