© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Heiße Debatte, kalte Dusche
Infektionsschutzgesetz: Im und vorm Bundestag ging es vergangene Woche hoch her / AfD bestraft Abgeordnete
Jörg Kürschner / Christian Vollradt

Am Mittwoch vergangener passierte etwas Außergewöhnliches: Niemand durfte aus dem Bundestag hinaus. Allerdings blieb das Phänomen – anders, als es sich mancher Politiker vielleicht gerne wünschte – buchstäblich auf das Gebäude beschränkt und nicht etwa auf das Mandat. Tatsächlich waren sämtliche Türen aller zum Parlament gehörenden Gebäude versperrt, bewacht von Beamten der Bundestagspolizei in ungewöhnlich martialischer Montur mit Schutzweste und -helm. Keiner kam rein, aber auch keiner raus. Sicherheit ging vor. Denn während im Hohen Haus in zweiter und dritter Lesung das Infektionsschutzgesetz beraten und beschlossen wurde, demonstrierten draußen in Sicht- und Hörweite Tausende, denen die damit verbundenen Einschnitte bei den Grundrechten zu weit gehen. 

Vor dem Hintergrund erster Corona-Impfungen noch im Dezember war Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Aufmerksamkeit der Abgeordneten sicher, als er Stellung nahm zu Berichten über eine mögliche Impfpflicht. „Und weil immer wieder anderes behauptet wird: Ich gebe Ihnen mein Wort, es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben“, sagte der CDU-Politiker an AfD-Fraktionschef Alexander Gauland gewandt, um hinzuzufügen: „Hören Sie endlich auf, etwas anderes zu behaupten.“ Dieser hatte zwar nicht von einer Impfpflicht gesprochen, aber die Demonstranten am Brandenburger Tor verteidigt, die für ihre Grundrechte einträten. „Das Mißtrauen wird explodieren, die Menschen fürchten um ihre Freiheit“. Bei der Demonstration war Gaulands Fraktionskollege Karsten Hilse für kurze Zeit mittels Handfesseln in Gewahrsam genommen worden, weil er keine Maske trug und sich laut Polizei bei einer Kontrolle unkooperativ verhalten habe. Hilse, selbst Polizeibeamter, mußte anschließend in ärztliche Behandlung.

Zu Beginn von Spahns Rede hatte die AfD mit einer Protestaktion für Aufsehen gesorgt, die aber ohne Ordnungsruf von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) geblieben war. Die Parlamentarier waren dessen Aufforderung bald gefolgt und hatten ihre Plakate entfernt, die das Grundgesetz mit einem schwarzen Band sowie Kreuz und dem Datum 18.11.2020 zeigten. Immerhin blieb der AfD so erspart, was 2010 die Linksfraktion erlebte, als sie mit Plakaten gegen die Bundeswehr in Afghanistan protestiert hatte. Da warf der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die Abgeordneten aus dem Plenarsaal. 

Gegen die gesetzliche Neuregelung hatte nach kontroverser Debatte nicht nur die AfD gestimmt, auch FDP und Linke waren dagegen. Das Gesetz schaffe nicht „die klare Berechenbarkeit staatlichen Handelns in einer Pandemie“, die es brauche, kritisierte FDP-Fraktionschef Christian Lindner. Die Regierung müsse ihre Krisenstrategie stärker im Parlament erklären. „Es geht nicht um Mitsprache bei jeder einzelnen Maßnahme“, aber die Strategie und die Ziele müßten klar sein. Mehr Mitspracherechte für das Parlament verlangte auch Linken-Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte. Er sah Widersprüche bei den Schutzmaßnahmen. „Auf der einen Seite gibt es Kontaktbeschränkungen, auf der anderen Seite gibt es allen Ernstes verkaufsoffene Sonntage“, empörte er sich. Die Grünen blieben die einzige Oppositionsfraktion, die dem Gesetzentwurf der Koalition zugestimmt hat. Gesundheitsexpertin Manuela Rottmann hob hervor, für bestimmte Einschränkungen würden künftig strengere Voraussetzungen gelten, alle Einschränkungen müßten nun befristet sein. SPD-Parlamentsgeschäftsführer Carsten Schneider verteidigte das Gesetzesvorhaben und kritisierte die Proteste dagegen. Das Recht auf Demonstrationen sei unbestritten, doch solle man sich überlegen, „mit wem man demonstriert“. Es sei eine „bunte Mischung“ aus Rechtsextremen, Hooligans, aber auch Menschen mit einem ganz anderen Hintergrund.

Im Bundestag stimmte schließlich eine klare Mehrheit von 413 Abgeordneten für die Reform, 235 votierten dagegen, 8 enthielten sich. Aufmerksam wurde registriert, daß acht Unionsabgeordnete der Koalition die Gefolgschaft verweigerten, darunter eher konservativ orientierte Parlamentarier wie Hans-Jürgen Irmer, Arnold Vaatz, Axel Fischer und Jana Schimke. Die Brandenburgerin wird als mögliche CDU-Generalsekretärin gehandelt, sollte Friedrich Merz zu Jahresbeginn zum neuen Parteichef gewählt werden.

Insgesamt zwölf Kundgebungen und Demonstrationen am Tag der Abstimmung im Bundestag hatte das Bundes-innenministerium im Vorfeld verboten und dies mit einer drohenden Beeinträchtigung der Arbeit des Parlaments begründet. Zwar gibt es – anders als in Bonn – rund um den Reichstag keine Bannmeile, in der Demonstrationen nicht stattfinden dürfen; das Gebiet gilt jedoch als „befriedeter Bezirk“, in dem das Innenministerium Versammlungen untersagen kann. Die Entscheidung für vergangenen Mittwoch sei im Einvernehmen mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und dem Bundesrat erfolgt.

Ärger über Verhalten von Gästen im Bundestag

Während die überwiegende Mehrheit der rund 9.000 Demonstranten friedlich gegen die ihrer Meinung nach falsche Corona-Politik und vor allem gegen die Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes protestierte, rechtfertigte die Polizei den Einsatz von Wasserwerfern. Sie seien das letzte Mittel gewesen, nachdem alle Bitten und Aufforderungen, die Hygieneregeln einzuhalten, mißachtet wurden und die Polizei die Versammlung aus Gründen des Infektionsschutzes habe auflösen müssen. Vor allem Personen aus der Hooligan-Szene hätten anschließend die Sicherheitskräfte angegriffen, „mit Flaschen, Steinen und Pyrotechnik beworfen“ sowie teilweise versucht, die Helme der Beamten vom Kopf zu zerren. Die Bilanz: insgesamt 77 verletzte Einsatzkräfte und 365 Festnahmen. Der kurzfristig in Gewahrsam genommene AfD-Abgeordnete Hilse kritisierte das Vorgehen der Beamten scharf: „Abgeordnete auf das Straßenpflaster zu werfen und in Handschellen abzuführen erinnert an finsterste Zeiten und schädigt das Vertrauen in den Rechtsstaat.“ Der direktgewählte Politiker aus Sachsen teilte der JUNGEN FREIHEIT mit, er habe Anzeige wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt erstattet. Die Berliner Polizei wiederum ermittelt gegen den 55jährigen wegen des Verdachts der Fälschung von Gesundheitszeugnissen (bezüglich eines Attests zur Masken-Befreiung) und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Für die AfD wurde jedoch etwas anderes zum Desaster in Sachen Öffentlichkeitsarbeit. Abgeordnete der Fraktion hatten Gäste aus dem Umfeld der „Querdenken“-Bewegung zur Debatte im Bundestag eingeladen – und offiziell angemeldet. Unter Mißachtung der Hausordnung liefen Besucher unbegleitet durchs Parlament, filmten Abgeordnete und sollen auch versucht haben, in Büros zu gehen. Besonders in die Kritk geraten war die Aktivistin und frühere Flüchtlingshelferin Rebecca Sommer (JF 41/19), die Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) beschimpfte und dabei vom Youtuber Thorsten Schulte (JF 2/18) gefilmt wurde. 

Viele AfD-Abgeordnete waren anschließend stinksauer auf die beiden Kollegen Petr Bystron und Udo Hemmelgarn, über deren Büros Sommer und Schulte im Bundestag angemeldet worden waren. Die daraufhin anberaumte Sondersitzung der Fraktion beschreiben Teilnehmer als „heftig“. Während manche MdBs den Vorfall als weiteres Beispiel für fehlende Führung durch die Fraktionsspitze deuten, die derartige Disziplinlosigkeiten und Eigenmächtigkeiten unter dem Stichwort „gäriger Haufen“ zu lange geduldet habe, erkennen andere in der aktuellen Reaktion auch positive Ansätze: „Das war ein Wendepunkt“, ist ein Abgeordneter überzeugt. So einmütig wie selten habe man das Fehlverhalten verurteilt und auch sanktioniert. 

Die Fraktion beschloß, daß „diejenigen Mitglieder, die diese Personen für den 18. November in den Bundestag eingeladen haben, dringend gebeten werden, sich bei Bundestagspräsident Dr. Schäuble zu entschuldigen“. Außerdem: Die betreffenden Gäste, „die sich ungebührlich verhalten haben, werden nicht mehr in den Bundestag und zu Veranstaltungen der Fraktion eingeladen“. Dennoch blieb der Ärger, dem politischen Gegner den Ball auf dem Elfmeterpunkt serviert zu haben. Die von Union und SPD für Freitag beantragte Aktuelle Stunde zu den Vorfällen im Bundestag wurde dann zur Generalabrechnung mit der AfD genutzt. „Ein schwarzer Tag“ für Fraktion und Partei sei das gewesen, resümierte frustriert einer ihrer Mandatsträger.  

Der Parlamentarische Geschäfts­füh­rer der Unions­frak­ti­on, Micha­el Grosse-Brömer, sagte, man sei es ja gewohnt, daß die AfD stets parla­men­ta­ri­sche Abläu­fe zu stören versu­che. Nun hätten sich ihre Abgeordnetn als „Schleuser“ betätigt, so der CDU-Mann unter Anspielung auf die Migrationskritik der AfD. Sein Kollege Patrick Schnie­der bezeich­ne­te die AfD als Verfas­sungs­fein­de und sprach von deren „Fratze der Unde­mo­kra­ten“. So ähnlich zog es sich unisono durch die Beiträge der anderen Fraktionen, stets lautete der Tenor; auf den Plätzen ganz rechts vom Präsidium säßen die Antidemokraten. 

Als AfD-Fraktionschef entschuldigte sich Gauland für das „unzivilisierte“ Fehlverhalten der Besucher, warf den anderen Fraktionen „Heuchelei“ vor, da sie sich nicht im selben Maße über andere Störungen im Bundestag echauffierten. So hatten etwa Anfang Juli in der Westlobby des Reichstags Mitglieder der radikalen Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion, eingeladen durch den parteilosen Abgeordneten Marco Bülow, gegen den Zeitplan des Kohleausstiegs demonstriert und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Flugblätter hinterhergeworfen. Ein Sprecher des Bundestages teilte auf Anfrage der jungen freiheit mit, daß „der Ermittlungsvorgang zu den Störungen von Anfang Juli noch nicht abschließend bearbeitet ist“. Im aktuellen Fall werde „derzeit noch ermittelt“. Unter anderem geht es um den Vorwurf einer Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans, Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans, Hausfriedensbruch und Beleidigung. 

Aus dem Büro des AfD-Abgeordneten Hemmelgarn verlautete am Montag, man arbeite an einem ausführlichen Entschuldigungsschreiben an Schäuble. Sein Kollege Bystron teilte der JF mit, er habe sich bereits am Donnerstag persönlich beim Bundestagspräsidenten entschuldigt. Frau Sommer lehnte eine Bitte der jungen freiheit um Stellungnahme ab. Am Dienstag beschloß die AfD-Fraktion unterdessen weitere Sanktionen: Bis Ende Februar 2021 dürfen Bystron und Hemmelgarn faktisch keine Rede mehr im Plenum halten. Bei weiterem fraktionsschädigendem Verhalten durch die beiden werde der Vorstand „Abwahlanträge bezüglich ihrer Mitgliedschaft in den Bundestagsausschüssen stellen“.