© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Unter Amthor-Vorbehalt
Paul Rosen

Wenn es Nacht wird im Reichstagsgebäude, sich die Stuhlreihen fast vollständig geleert haben und sich weder erwünschte noch unerwünschte Besucher auf den Fluren oder Zuhörerbanken befinden, sind Dinge und Szenen zu erleben, die einmalig und manchmal auch unvorstellbar sind. Ein Beispiel dafür bot der Donnerstag vergangener Woche. Es ging wohl auf 22 Uhr, als das Parlament ganz schnell beschloß, 635 Millionen Euro vom Bund an die Länder zur Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern zu verschieben. Das Gesetz wird einer breiten Öffentlichkeit kaum bekannt werden, und dies dürfte auch Sinn und Zweck dieser großkoalitionären Nachtunternehmung zur Verschleierung von Asylkosten gewesen sein. Sebastian Brehm (CSU) war voll des Lobes, „daß wir in diesen Zeiten schnell – aber doch wohlüberlegt – handeln können“.

Etwas später war eine beispiellose Neuinterpretation des Verfassungsrechts zu erleben. Danach hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erst dann Beachtung zu finden, wenn es zu Lebzeiten des CDU-Abgeordneten Philipp Amthor ergangen ist, der 1992 geboren wurde. In der fraglichen Debatte ging es um das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983, wonach der einzelne Bürger nicht katalogisiert werden darf. Genau das plant die Bundesregierung jetzt aber, indem sie die Steueridentifikationsnummer (Steuer-ID) zur allgemeinen Personenkennzahl für alle Lebensbereiche weit über das Steuerrecht hinaus ausweiten will. Eine Personenkennzahl hatte es schon in der DDR gegeben; sie wurde aus gutem Grund mit der Wiedervereinigung 1990 abgeschafft. Ulrich Kelber, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, lehnt den Gesetzentwurf strikt ab. Eine Personenkennziffer gefährde den besonders geschützten geistigen Innenraum des Bürgers. Es bestehe ein „erhebliches Risiko der mißbräuchlichen Zusammenführung der Daten aus unterschiedlichen Registern“.

Das Volkszählungsurteil und die darauf gründenden Bedenken des Datenschutzbeauftragten wischte Marc Henrichmann (CDU) in der Debatte mit einem kühnen Griff beiseite: „Das Urteil ist von 1983 – also zehn Jahre älter als der Kollege Amthor. Zu der Zeit gab es weder Internet noch sonst irgendwelche Technik. Deswegen hinkt der Vergleich mit diesem Sachverhalt deutlich.“ Jurist Henrichmann stellte also kühn das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unter „Amthor-Vorbehalt“, als sei es vom jeweiligen Stand der Technik abhängig.

Selbst den Koalitionspartner der Union beschlichen Zweifel, ob der Nummern-Vorstoß aus dem Bundesinnenministerium verfassungsrechtlich haltbar ist. Helge Lindh (SPD) forderte, es müsse bei der weiteren Beratung darauf geachtet werden, „daß das Ganze verfassungsfest ist.“ Dies wird von allen Oppositionsfraktionen bezweifelt: Für Uwe Schulz (AfD) ist der Entwurf der „nächste Schritt zum gläsernen Bürger“,  Manuel Höferlin (Grüne) und Petra Pau (Linke) erinnerten an das Verfassungsgerichtsurteil, das ja allerdings von der CDU unter den „Amthor-Vorbehalt“ gestellt wird.