© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Zeitschriftenkritik: exit!
Die Systemrelevanten und die Überflüssigen
Jens Knorr

Plötzlich und unerwartet habe von irgendwoher da draußen ein Virus unsere schöne neue Marktwirtschaft im allgemeinen und unser immer effizienteres Gesundheitswesen im besonderen heimgesucht und eine Krise ausgelöst, heißt es. Dabei bringt die Covid-19-Krise die neoliberale Zurichtung der Weltwirtschaft und Zerstörung der Weltgesellschaft lediglich zur Erscheinung – und das gegen systemrelevantes Kapital ebenso liberale wie gegen den nicht systemrelevanten Teil der Bevölkerung autoritäre Management der Covid-19-Krise die Funktion des Staates als sichtbare, repressive Hand des Marktes zur Kenntlichkeit.

Doch wer eigentlich ist systemrelevant und wer nicht? Im diesjährigen Heft der Zeitschrift exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft zeichnet Leni Wissen die „Geschichte der Armenfürsorge“ bei der Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft und Andreas Urban „Geschichte, Logik und Funktion des Altenheims“ nach.

Die „Trennung von ‘Arbeit’ und ‘Nicht-Arbeit’“ und damit „die Unterscheidung zwischen würdigen, d.h. arbeitenden, und unwürdigen, d.h. nicht-arbeitenden, Armen“ verortet Leni Wissen in der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ausgangs des Mittelalters. Sie habe „die Ausformung des entstehenden Sozialwesens“ geprägt und präge sie bis heute. Die „würdigen“ Armen erführen eine „gehobene“, die „unwürdigen“ Armen eine „disziplinierende und diskriminierende Armenfürsorge auf jämmerlichem Niveau“. In der späten Bundesrepublik sind Versicherungswesen und Fürsorge konsequent getrennt: Mit der Einführung von ALG II obliegt der „Agentur für Arbeit“ die Arbeitsvermittlung als „gehobene Fürsorge“, dagegen der kafkaesken Institution des „Jobcenters“ die Verwaltung, Kontrolle und Zurichtung der „Überflüssigen“ für den prekären Beschäftigungssektor. Heute, da die abstrakte Arbeit als Substanz des Kapitals gesamtgesellschaftlich wegbricht, sei davon auszugehen, schließt die Autorin, „daß weder die wirtschaftlichen Deregulierungen der Arbeit noch die staatlich durchgesetzten Zwangsmaßnahmen zur Arbeit die zerbrechende Akkumulationsbasis kompensieren können.“

Als eine spezifisch moderne Institution stelle das Altenheim „nichts Geringeres als eine Anstalt zur Verwahrung alter Menschen als gesellschaftlich Überflüssige dar“. Seine „Horrifizierung“ als „Abschiebe- und Verwahranstalt“ wie seine „Idealisierung“ als „Ort zum Leben“ sind nach Andreas Urban „zwei nicht zufällig nebeneinander auftretende und wechselseitig miteinander vermittelte Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Altenheim-Diskurses“. Die „Aktivierung der (noch) Aktivierbaren, Ruhigstellung der nicht mehr Aktivierbaren“ habe „die Funktion, den pflegetechnischen Ablauf in der Art und Weise möglichst glatt und reibungslos zu gestalten, wie er durch die von den Gesetzen des Marktes und von der ökonomischen Kosten-Nutzen-Rationalität erzwungene Orientierung an Zeit-  und Kosteneffizienz im Altenheim strukturell vorgegeben wird“.

Kontakt:  „exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft“, hrsg. vom Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften e.V., Berlin; zu Klampen Verlag, Röse 21, 31832 Springe. Das Einzelheft kostet 22 Euo, im Abo 17 Euro.

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