© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Die Ehrfurcht vor der Aura schwindet
Vandalismus und Diebstähle: Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Museen davon betroffen sind
Thorsten Hinz

Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, war fassungslos: „Es ist jetzt nicht mehr zu leugnen: Die Kultur wird angegriffen. Die markante und weltberühmte Granitschale vor dem Alten Museum ist auf fürchterliche Weise beschmiert worden.“ Der Angriff geschah in der Nacht vom 23. zum 24. Oktober. Einem Passanten war aufgefallen, daß sich 10 bis 15 – wie es heißt – „junge Männer“ mit Spraydosen am Monolithen im Berliner Lustgarten zu schaffen machten. Zwei von ihnen im Alter von 17 und 21 Jahren wurden von der Polizei vorläufig festgenommen. Die Graffiti enthielten neben primitiv-zotigen Sprüchen auch den türkischen Satz: „Hayat Kisa Insanlar Ölüyo“ („Das Leben ist kurz, Menschen sterben“).

Es handelt sich um die weltweit größte aus einem einzelnen Stein gefertigte Schale mit einem Durchmesser von fast sieben Metern und einem Gewicht von 75 Tonnen. Das „Biedermeierweltwunder“ ist ein geologischer, geschichtlicher, künstlerischer und ein Artefakt der Ingenieurskunst, gefertigt vor fast 200 Jahren aus einem Findling im Berliner Umland. Der Stein wurde auf Stämmen zur Spree transportiert, mit einem Kahn nach Berlin gebracht und in einer Werkstatt nahe des Museums mittels einer modernen Dampfmaschine geschliffen und poliert. Der Maler Johann Erdmann Hummel hat die Arbeiten und ihr Resultat in Skizzen und auf Gemälden abgebildet. Den Zweiten Weltkrieg überstand die Schale mit vergleichsweise geringen Blessuren. Im Schinkel-Jahr 1981 wurde sie im restaurierten Zustand am alten Standort wieder aufgestellt.

Verwahrlosung des öffentlichen Raums

Die Schmiererei war nicht der erste Anschlag auf die Berliner Museumsinsel. Am 3. Oktober wurden im Neuen und im Pergamon-Museum sowie in der Nationalgalerie mehr als 60 Ausstellungsstücke und Gemälde mit einer öligen Flüssigkeit beschmiert. Zu einem ähnlichen Vorfall war es bereits im Juli im Paderborner Kreismuseum Wewelsburg gekommen; dort waren etwa 50 Objekte betroffen.

Im März 2017 war bei einem Einbruch ins Bode-Museum eine riesige Goldmünze im Millionenwert geraubt worden. Nimmt man den im im November 2019 erfolgten Einbruch ins Grüne Gewölbe in Dresden und die kürzliche Öl-Attacke auf eine Statue in Schloß Cecilienhof bei Potsdam hinzu, dann kann man den Worten Parzingers nur beipflichten: „Wir brauchen jetzt nicht nur verstärkten Schutz für unsere Schätze – wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir unsere kulturellen Werte verteidigen.“ Wenn er hinzufügt: „Warum? Weshalb? Gibt es nichts Heiliges mehr, daß man selbst vor Kunstwerken nicht Halt macht (...)?“, dann stellt sich allerdings die Frage: Auf welchem Stern lebt der Mann eigentlich?

Bei den Einbrüchen ins Bode-Museum und ins Grüne Gewölbe handelt es sich um Raubzüge. Die drei anderen Fälle changieren zwischen hirnlosem Vandalismus und symbolischen Akten. Zwischen den Taten gibt es neben Unterschieden jedoch auch untergründige Zusammenhänge.

Da ist zum einen die Verwahrlosung des öffentlichen Raums, die die zunehmende Asozialität in der Gesellschaft widerspiegelt. Die Zahl derer, die in keine sozialen Strukturen und in kein Normengerüst integriert sind, nimmt stetig zu. Das betrifft nicht nur deutsche Unterschichten oder Einwanderergruppen, die von ungezähmten Instinkten gesteuert werden, sondern auch jene, die jedwede Regeln als autoritäre Zumutungen dekonstruieren. Die „Gewalt gegen Sachen“ gilt als läßliche Sünde. Die Lust an der Regelüberschreitung braucht immer stärkere Reize. Es war nur eine Frage der Zeit, daß sie auch in die großen Museen – als säkulare Kathedralen unserer Zeit – vordringt. 

Minderwertigkeitskomplex vor dem Unverstandenen

Der Normenverlust zeigt sich im sinkenden Bildungsniveau. Der Verzicht auf einen Bildungs- und Kulturkanon und seine Ersetzung durch Kompetenzen führt zu einem Banausentum, das wenig bis nichts und trotzdem alles besser weiß. Die Ehrfurcht vor der Aura, dem „Heiligen“ des Artefakts schwindet, was bleibt, ist der Minderwertigkeitskomplex vor dem Unverstandenen. Der wird kompensiert durch Zerstörungswut und Auslöschungsdrang. Die primitiven Reflexe werden ebenfalls ideologisch überformt und gerechtfertigt, indem Kunstwerke und historische Zeugnisse als Relikte aus vordemokratischen Zeiten, als Zeugnisse von Ausbeutung, Unterdrückung und globaler Ungerechtigkeit abgewertet werden.

Wenn Studenten der Sozial- und Geisteswissenschaften weltliterarische Texte, Gemälde, Denkmäler, Straßennamen und differierende Meinungen nicht ertragen können, weil sie ihren postheroischen, postnationalen, postmigrantischen Weltbildern und ihrem queeren Geschlechterverständnis zuwiderlaufen, bezeugen sie damit ihre Unfähigkeit zu historischem Denken und ihre fehlende Studierfähigkeit. Wer über kein geschichtliches Langzeitgedächtnis verfügt, dem werden das auf die Gegenwartsmoden fixierte Kurzzeitgedächtnis und das beschränkte Ich zum absoluten Maßstab. Diese Inkompetenten aber sind die künftigen Meinungsmultiplikatoren. Bewegungen und Aktionen wie „Black Lives Matter“ erlauben ihnen, die Kultur und Geschichte ihren politischen Leidenschaften zu unterwerfen, angefangen bei der Schleifung von Denkmälern über die Neubenennung von Stadträumen bis zum Umschreiben alter Texte. Fanatisierte Gegner könnten sich herausgefordert und legitimiert fühlen, ihre Frustration ebenfalls am Kulturerbe auszuleben.

Werbefläche für politische Billig-Propaganda

Der Althistoriker Parzinger begreift nicht, warum nun auch „die Antike zur Zielscheibe wird“. Dabei hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz dem Vandalismus, den sie beklagt, gleichfalls eine Tür geöffnet, indem sie am klassizistischen Portal des Alten Museums das Plakat aufhängen ließ: „Für Weltoffenheit und demokratische Werte. Gegen Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Hetze“. Der Schinkelsche Prachtbau mit den 18 ionischen Säulen wurde zum Hintergrund und zur Werbefläche für politische Billig-Propaganda degradiert und so entweiht. Die Granitschale als Untergrund für Graffiti-Botschaften zu nutzen war der nächste logische Schritt. Die Täter kennen gewiß nicht die Bedeutung des künstlerischen und technischen Wunderwerks, das auch als „vaterländisches Symbol“, „Kultgestein“ und „Mythos“ galt, doch daß es ein geeignetes Objekt ist, um durch verübten Frevel ihre Verachtung für unser kulturelles Erbe auszudrücken, haben sie gut erfaßt.

Die Einbrüche ins Bode-Museum und ins Grüne Gewölbe wurden, wie man jetzt mit Bestimmtheit weiß, von Angehörigen arabischer Clans begangen. Auch diese Taten sind eine logische Konsequenz. Sie ergibt sich aus der Beschränktheit und Wehrlosigkeit eines Landes, das sich als „weltoffen“ deklariert und dabei ignoriert, daß es Menschen hereinläßt und einbürgert, die Deutschland als reine Beutegesellschaft betrachten und seine Kultur ausschließlich nach ihrem materiellen Beutewert beurteilen. Untaugliche Sicherheits- und Überwachungssysteme und ein Wachdienst, der den Raub auf dem Bildschirm mitverfolgt, anstatt ihm mit aller Konsequenz Einhalt zu gebieten, vervollständigen das desolate Bild von einem Land, das sich weder moralisch noch praktisch der Angriffe auf seine Bestände erwehren kann.

Heinrich Heine sah in der Massengesellschaft, die sich zu seinen Lebzeiten herauszubilden begann, Marktweiber voraus, die aus seinen Gedichten Tüten für den Tabak drehen würden. Auf die Frage Hermann Parzingers nach dem Rang des Heiligen in der Gesellschaft hat Friedrich Schiller schon vor über 220 Jahren mit Blick auf die Französische Revolution geantwortet: „Nichts Heiliges ist mehr, es lösen Sich alle Bande frommer Scheu ...“ Und darin ist noch nicht einmal die nationale Selbstverachtung eingepreist, in der die Bundesrepublik sich badet. „(Eine) gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir unsere kulturellen Werte verteidigen“, kann unter diesen Umständen nur ins Nichts führen.

Der Schutz der kulturellen Schätze und Werte wird in Zukunft weniger einer verwahrlosenden Gesellschaft und ihren maroden Institutionen als vielmehr Refugien obliegen müssen, die sich gegen sie abschirmen. In der Vergangenheit bewährten die Klöster sich als Zentren der Geistigkeit, der Sammlung und Reflexion. Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ ist kein großer Roman, aber das Modell einer außerhalb der Zeit gestellten pädagogischen Provinz namens Kastalien, in der ein hierarchischer Orden das geistige und kulturelle Erbe archiviert, erforscht und aufbereitet, ist womöglich zukunftsträchtiger als die Annahme, die Kultur- und Bildungslosen ließen sich massenhaft bekehren.

In Ray Bradburys dystopischem Roman „Fahrenheit 451“ sind Bücher verboten und werden verbrannt. Eine Gruppe Dissidenten zieht sich in den Wald zurück, wo sie die einmal gelesenen Texte repetieren, um sie in ihrem Gedächtnis für die Nachwelt aufzubewahren. Die Hoffnung beruht auf der Dissidenz, nicht mehr auf der Gesellschaft.