© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Sonntags 20.15 Uhr
Der „Tatort“ feiert seinen 50. Geburtstag: Eine gesellschaftpolitische Schlagseite gab es von Anfang an
Karlheinz Weißmann

Es gab Zeiten, da durfte man den einen Bundesbürger nicht zwischen 20 Uhr und 20.15 Uhr stören (wegen der „Tagesschau“), den anderen nicht zwischen 19 Uhr und 19.25 Uhr (wegen der „Heute“-Sendung) und den dritten nicht am Sonntagabend, falls ein „Tatort“ lief. Das kam ursprünglich nur relativ selten vor. Nachdem die ARD am 29. November 1970 die erste Folge ausgestrahlt hatte, gab es weitere nur in Abständen von etwa vier Wochen. 

Eine Ursache dafür war die notwendige Koordination zwischen den Landessendern – später ergänzt um ORF und SRF –, die mit einer gewissen Eifersucht darüber wachten, daß „ihre“ Kriminalbeamten aus „ihrer“ Groß- oder Hauptstadt in der richtigen Reihenfolge „dran“ waren.

Eine moderne, härtere Krimi-Reihe sollte her 

Das Konzept, je verschiedene Ermittler in einer mehr oder weniger stark durch Lokalkolorit bestimmten Szenerie auftreten zu lassen, gehörte zu den Besonderheiten des „Tatort“. Auch das unterschied ihn von der bis dahin erfolgreichsten deutschen Kriminalreihe „Der Kommissar“. Die strahlte das ZDF schon seit 1968 aus und hatte damit eine Institution der westdeutschen U-Kultur geschaffen. Die Popularität der von dem Schauspieler Erik Ode gespielten Hauptfigur ging auch darauf zurück, daß sie alle Tugenden der Nachkriegszeit verkörperte. Kommissar Keller war das, was man einen Mann „in den besten Jahren“ nannte, jovial, aber mit natürlicher Autorität gegenüber seinen Mitarbeitern wie gegenüber den Verdächtigen. Keller ging sicher nie ohne Hut aus dem Haus und nie ohne Hemd und Krawatte zum Dienst, während er seinen jüngeren Untergebenen nicht nur den Rollkragenpullover, sondern auch die modische Halblanghaarfrisur gestattete. „Der Kommissar“ vertrat präzise Vorstellungen von Recht und Unrecht; nur in der letzten Phase der Serie duldete Keller psychologisierende Betrachtungen. Aber trotzdem stand fest: Am Schluß hatte Keller das Verbrechen aufgeklärt, den Ganoven unschädlich gemacht, die Ordnung wiederhergestellt.

Bezeichnend war auch, daß „Der Kommissar“ bis zur Einstellung der Serie 1975 in Schwarzweiß gedreht wurde, obwohl Farbfernsehen längst verfügbar war. Den damit verbundenen Eindruck – des Wohlvertrauten oder des Altbackenen, je nach Sicht der Dinge – wollte man für den „Tatort“ von Anfang an vermeiden. Der „Tatort“ sollte moderner, härter und schneller sein. Man kann das heute noch an dem stets unverändert gebliebenen Intro mit den eigenartig segmentierten Aufnahmen, unterlegt von der Musik Klaus Doldingers, feststellen. Wichtiger als das war aber das stete Bemühen, dem Bild des pflichtbewußten, kleinbürgerlichen Beamten andere, interessantere, dem Zeitgeschmack nähere Figuren entgegenzustellen. Als typisch konnte schon der erste „Tatort“-Kommissar Trimmel (Walter Richter) gelten, ein ausgesprochen mürrischer Zyniker, und eine Art überoptimaler Vertreter der neuen Linie war der Zollfahnder Kressin (Sieghardt Rupp). Kressin scherte sich weder um gebrochene Herzen noch um Regeln, bot aber nur einen Vorgeschmack auf das, was mit dem Duisburger Kommissar Schimanski (Götz George) folgen sollte. 

Keine andere „Tatort“-Figur hat so massive Diskussionen ausgelöst wie der immer etwas schmuddelige, ungepflegte, keine Autorität achtende Schimanski, dessen Machismo in einer heute kaum noch vorstellbaren Weise Frauenherzen höher schlagen ließ. Hinzu kam in seinem Fall noch die Tendenz dessen, was man seit den 1970er Jahren unter Zeit- und Sozialkritik verstand. Schimanski war einer „von unten“, und mit seinem „prolligen“ Auftreten und seiner fallweisen Tätersympathie sollte er ausdrücklich in Frage stellen, was einmal – und in Resten noch immer – den traditionellen Wertekanon repräsentierte.

Diese Art weltanschaulicher Schlagseite hat sich im „Tatort“ bis heute erhalten und nach der Wiedervereinigung – die neue Sender und neue Ermittler brachte – eher verstärkt als abgeschwächt. Das heißt, unter den Tätern sind mehr Politiker, Unternehmer, sonstige Wohlhabende und Akademiker als statistisch gesehen wahrscheinlich. Eine Feststellung, die noch um eine zweite ergänzt werden muß: Unter den Bösen gibt es ein Übergewicht von Biodeutschen gegenüber Migranten, von Alt- und Neonazis gegenüber Ökoterroristen und RAF, von Landbevölkerung gegenüber Städtern. Das widerspricht der Wahrscheinlichkeit, und gelegentlich führen Verzeichnungen zu Protesten. Der Bayerische Rundfunk neigte phasenweise zur Abkoppelung, wenn ein unliebsamer „Tatort“ ausgestrahlt wurde, und die sehr böswillige Darstellung von Dörflern einer Gegend Österreichs löste sogar eine Demarche der zuständigen Landesregierung aus. Aber durchgreifende Wirkung hatte das nicht. Was auch darauf zurückzuführen sein mag, daß der „Tatort“ zwar anfangs auf ein jüngeres Publikum setzte, das den „Wertewandel“ mittrug. Seitdem der aber in den gesellschaftlichen „Konsens“ überführt wurde, haben sich die meisten Störgefühle verloren. Das schludrige Zivil als Dienstkleidung ist ebenso selbstverständlich geworden wie die linksliberale Gesinnung, wie die Menge der privaten Probleme der Bindungsschwachen, Ehebrecher, Geschiedenen und Alleinerziehenden unter den Akteuren. Während Kommissar Keller selbstverständlich mit einer Nur-Hausfrau verheiratet war, zu der er nach Feierabend heimkehrte, dürfte die Zahl der „Tatort“-Fahnder, die ein normales Familienleben führen, an einer Hand abzuzählen sein.

Was den Aspekt der Diversität angeht, hapert es allerdings. Die Menge der weiblichen Ermittler ist im Lauf der Jahrzehnte deutlich gestiegen, aber immer noch weit von Parität entfernt. Zwar gab es einen Italo-Deutschen in Ludwigshafen, gibt es einen türkischstämmigen Kommissar in Hamburg, einen, der immer noch von seinen „jugoslawischen“ Wurzeln spricht, in München und eine Kommissarin mit schwarzafrikanischen Vorfahren in Göttingen (die ewig hölzern aufspielende Florence Kasumba neben der ewig hölzern aufspielenden hellhäutigen Maria Furtwängler), aber damit hat es sich. Anders steht es indes in bezug auf Behinderungen. Selbst wenn man von der offensichtlichen PTBS des Ermittlers Faber (Jörg Hartmann) in Dortmund absieht, bliebe da noch die Epilepsie der Sarah Brandt (Sibel Kekilli) in Kiel und der Hirntumor von Murot (Ulrich Tukur) in Frankfurt. Alles gesundheitliche Belastungen, die eigentlich zum sofortigen Ausscheiden aus dem Polizeidienst führen müßten.

Legendäre Szenen, treue Zuschauer

Nun darf man die Forderung nach Realitätsnähe im Unterhaltungsprogramm nicht überziehen. Und daß der „Tatort“, diese langlebigste deutsche Fernsehserie, immer wieder gute Unterhaltung geboten hat und bietet, ist unbestreitbar. Der treue Zuschauer erinnert sich also etwas wehmütig an legendäre Folgen wie „Tod vor Scharhörn“ (mit Manfred Krug als Kommissar Stoever), die Szene, in der Borowski (Axel Milberg) seinem alten Volvo den Gnadenschuß verpaßt oder die ewigen Plänkeleien zwischen Kommissarin Folkerts und ihrem Kollegen Kopper über ordentlichen Espresso und den richtigen Wein zur Pasta. Er meidet tunlichst die schweizerischen Beiträge wegen ihrer Unsäglichkeit, zögert, ob ihm nach dem Klamauk ist, der in Münster oder Weimar veranstaltet wird, um zuletzt relativ sicher anzunehmen, daß ein „Tatort“ aus Kiel, aus Stuttgart, aus Köln, München oder Wien etwas bietet, das es erlaubt, das Wochenende entspannt auf halbwegs spannende Weise zu beenden.