© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Der Revolutionär, dem jedes Mittel recht ist
Vor 200 Jahren wurde der kommunistische Wegbereiter Friedrich Engels geboren
Konrad Löw

Das Marx-Engels-Forum bildet die Mitte der Hauptstadt Deutschlands. Anfang der 1980er Jahre aus Bronze gegossen, erinnern Karl Marx und Friedrich Engels an die Jahrzehnte, in denen Berlin das politisch-geistige Zentrum der Deutschen Demokratischen Republik gewesen ist. Marx wie Engels wurden dort als die geistigen Führer auf dem Weg in das sozialistisch-kommunistische Paradies verehrt. Neben Lenin und zeitweilig Stalin genossen sie die höchste Reputation. Sie schmückten den sozialistischen Götterhimmel. Jeder ihrer Kritiker war zugleich ein Staatsfeind, der alle Sanktionen, über die ein totalitärer Staat verfügt, gewärtigen mußte.

Dann kam 1989 die friedliche Revolution. Die Ausstellung „Stasi – Macht und Banalität“ zeigte in Leipzig die „Geschichte der Unterdrückung und des Unrechts“, beginnend mit Fotos von Marx und Engels, gefolgt von Lenin und Stalin. Am flachen Sockel des Denkmals in Berlin fand sich im Oktober 1990 das Graffito „Wir sind unschuldig“. Wenig später lautete die Aufschrift nur noch: „Wir sind schuldig“. Das „un“ war übersprüht. Welche Formulierung ist zutreffend? 

Ist es denkbar, daß beider Lehre und Agitation so widersprüchlich gewesen sind, daß jeder ihrer Anhänger für seine Interpretation genügend passende Zitate findet? Da Denkmäler nicht nur künstlerische Gebilde sind, sondern Einladungen zur Reflexion über das, wofür die Abgebildeten stehen, ist die Antwort auf die Frage, wes Geistes Kind Marx und Engels waren, eine ständige Herausforderung an jeden politisch etwas Interessierten. Aus Anlaß von Engels’ 200. Geburtstag am 28. November soll eine fundierte Antwort versucht werden, zumal die Bilderstürmerei gerade in Mode ist.

In einem Essay Sebastian Haffners heißt es resümierend: „Und wenn man fragt, was Engels denn nun eigentlich geschaffen und ausgerichtet hat, was er nun eigentlich hinterläßt, dann muß man paradoxerweise antworten: Marx – und den Marxismus. Ohne Engels kein Marx.“

Engels begnügte sich damit, die zweite Geige zu spielen

War Engels Marxens böser Geist oder war er dessen Opfer? Beide Ansichten werden vertreten. Doch keine ist richtig. Nach dem Tode des Freundes schreibt Engels in einem Brief: „Das Stückchen vom bösen Engels, der den guten Marx verführt hat, spielt seit 1844 unzählige Male abwechselnd mit dem andern Stückchen von Ahriman-Marx, der den Ormuzd-Engels vom Wege der Tugend abgebracht.“ Alles spricht dafür, daß sich da zwei Menschen fanden, die unabhängig voneinander übereinstimmende Ansichten entwickelt hatten. Doch ihr Naturell war verschieden, und Engels begnügte sich damit, die zweite Geige zu spielen. So kommt es auch, daß es weit mehr Literatur über Marx als über Engels gibt. 2012 erschien von einem jungen englischen Historiker eine bemerkenswerte, umfangreiche Biographie über Engels, die immer wieder unsere Frage thematisiert: „War also, um es zu wiederholen, Engels für die furchtbaren Untaten verantwortlich, die unter dem Banner des Marxismus-Leninismus begangen worden sind? (…) Weder Engels noch Marx kann man vernünftigerweise die Schuld an Verbrechen geben, die Generationen nach ihnen verübt wurden, auch wenn sich die Täter auf sie beriefen.“

Nun, zwischen dem Ableben Engels’ und der blutigen Revolution Lenins liegt nicht einmal eine Generation. Und wenn: Kommt es darauf an? Warum haben sich die kommunistischen Agitatoren darauf berufen, wenn sich der Geist der Worte bereits wie Pulverdampf verflüchtigt hatte? Auf zu den Quellen, soweit das im vorgegebenen Rahmen möglich ist! Im Jahr 1842, also noch vor der Liaison mit Marx, die erst 1844 folgte, dichtete Engels anonym über sich selbst: 

„Doch der am weitesten links mit langen Beinen toset, Ist Oswald (Pseudonym für Engels)…

Er spielt ein Instrument: das ist die Guillotine …“

1845 bekennt er, zusammen mit Marx: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. (...) Die Revolution muß kommen.“

1846: „Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral …“

Der Schlußabsatz aus „Das Manifest der Kommunistischen Partei“ lautet: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ Wer darüber nachdenkt, sieht Berge von Leichen und Ströme von Blut. In der literarischen Hinterlassenschaft von Marx und Engels gebührt dem „Manifest“ der höchste Stellenwert. Im Februar 1848 erstmals erschienen, ist es das „in der Welt weitestverbreitete Werk explizit politischer Literatur“.

Engels 1848 in der Neuen Rheinischen Zeitung mit dem Chefredakteur Marx: „Ein Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Tschechen bleibt jetzt die einzige mögliche Lösung (…). Aber ohne Gewalt und ohne eherne Rücksichtslosigkeit wird nichts durchgesetzt in der Geschichte (…). Dann Kampf, ‘unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod’ mit dem revolutionsverräterischen Slawentum; Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus – nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution!“

Nicht die Lageverbesserung, sondern die Krisis als Ziel

Mit dem Tode von Marx 1883 entfällt der kongeniale Ansprechpartner. Doch nach wie vor ist Engels der Revolutionär, „dem jedes Mittel recht ist, das zum Ziele führt, das gewaltsamste, aber auch das scheinbar zahmste“. So 1889. Daher ging ihm nicht die rasche Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen über alles, sondern die Krisis der Proletarier, da sie in der Revolution münde: „Alle diese diversen Lumpenhunde müssen sich erst gegenseitig kaputtmachen, total ruinieren und blamieren und uns dadurch den Boden bereiten …“

Engels war ein Vater des Terrors. Warum dann die hohe Reputation auch unter seriösen Sozialdemokraten? Nicht der wenig bekannten Lehre wegen, sondern weil der kinderlose, wohlhabende Unternehmer stets eine gebende Hand für führende Mitglieder und die Partei selbst hatte, der er aber nie beitrat.






Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist der Verfasser des Buches „Rotbuch der kommunistischen Ideologie. Marx & Engels – Die Väter des Terrors“ (München 1999).