© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/20 / 27. November 2020

Putin versteht nur die Sprache der Macht
Der langjährige Moskau-Korrespondent Manfred Quiring über die Auferstehung der Weltmacht Rußland
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Moskau spielt heute wieder eine Rolle auf der weltpolitischen Bühne. Seine neue Klasse besteht nach Ansicht des Autors Manfred Quiring, der mehr als zwei Jahrzehnte als Korrespondent – in der DDR-Zeit bis 1987 und 1991 bis 1995 für die Berliner Zeitung, später für die Welt – dort arbeitete, aus den mächtigen Geheimdiensten, den Leitern der Staatsunternehmen als weltweite Rohstofflieferanten und dem aufgerüsteten Militär. 

Die gesamte Machtkonzentration aber liegt bei Wladimir Putin, dessen Autorität der eines einstigen Zaren gleicht und verbunden ist mit einem starken Personenkult. Ihm kommt zugute, daß er dem russischen Volke das erstrebte Selbstwertgefühl gegeben hat, das in der Jelzin-Zeit vor die Hunde ging. Putin will sein Land wieder zu einer Weltmacht erheben. Nahziel ist, die ehemaligen Sowjetrepubliken dem heutigen Rußland einzugliedern. So seien seine Kriege gegen Tschetschenien und Georgien zu verstehen, wo er zwei Regionen zwar als eigene Staaten anerkannte, aber auch seine Truppen stationierte. Die Eroberung der Krim begleitet der Autor mit der Lüge, man habe Russen vor „ukrainischen Faschisten schützen“ müssen. 

Über Nato-Osterweiterung wurde nie diskutiert

In der nach den Kiew-Ereignissen im Ostteil des Landes zunächst unübersichtlichen Lage ging Putin mit zunächst verdeckten Operationen, dann mit Militär gegen die Führung im Kiew vor, so daß man von einer De-facto-Eroberung der Ostukraine sprechen muß. Solange es Moskau ablehnt, daß die Ukraine die Kontrolle über ihre Grenzen übernimmt, ist dessen Nachschub an Waffen und Soldaten dort gesichert. Gefährdet ist auch Weißrußland. Im Baltikum sieht der Kreml „Verantwortung“ für dort lebende Russen – doch die Nato-Mitgliedschaft ist für Putin eine Gefahr. Im Nahen Osten konnte er sich eine Dauerpräsenz im Mittelmeerraum sichern und das Assad-Regime vor dem Untergang retten. Rußlands Hoffnung, China könne Motor für seinen notwendigen Wirtschaftsaufschwung sein, sind enge Grenzen gesetzt; eine Wirtschaftspartnerschaft ist kaum zu erwarten.

Ausführlich geht das Buch auf die ständige Behauptung Moskaus ein, der Westen habe sein Wort über eine Nichterweiterung der Nato in Richtung Osten gebrochen. Putin, der die angebliche Nato-„Garantie“ einklagen will, stützt sich auf eine Rede das damaligen Nato-Generalsekretärs Manfred Wörner von 1990, die sich indes nur auf den östlichen Teil Deutschlands beziehen konnte – keinesfalls aber auf die Mitglieder des Warschauer Paktes, der damals noch existierte. Auch für den damaligen Kanzleramtsminister Horst Teltschik gab es „zu keinem Zeitpunkt die Rede über eine Erweiterung der Nato über Deutschland hinaus“. Gorbatschow selber stellte in der russischen Zeitung Kommersant im Oktober 2014 klar, das Thema sei seinerzeit überhaupt nicht diskutiert worden.

Daß Moskau viele Atom-U-Boote baut, ist bekannt. Doch eine Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wirkt nur solange, wie die Gegenseite im Ungewissen über die Berechenbarkeit des Drohenden gehalten wird. Moskau wird wissen, daß die USA stets die Zweitschlagsfähigkeit besitzen. Obwohl Rußland in Europa über ein deutliches Übergewicht bei taktischen Atomwaffen und Mittelstreckenraketen verfügt, erachtet der Autor eine militärische Konfrontation für „höchst unwahrscheinlich“; dies könne sich das ökonomisch schwache Moskau nicht leisten. Die Ansicht, durch Kompromißbereitschaft den Kreml zu besänftigen, sei falsch: Seit jeher werten Russen ein solches Verhalten als Schwäche. Putin verstehe nur die Sprache der Macht, der Stärke. Nötig sei eine europäische Antwort im Sinne von Gemeinsamkeit, Entschlossenheit und Illusionslosigkeit.

Manfred Quiring: Rußland. Auferstehung einer Weltmacht? Verlag Ch. Links, Berlin 2020, broschiert, 275 Seiten, 20 Euro