© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

„Wir sind, wie ’89, an einer Wegscheide“
Vor dreißig Jahren gründete Ursula Popiolek auf eigene Faust die Berliner „Gedenkbibliothek für die Opfer des Kommunismus“, um über den roten Totalitarismus aufzuklären. Nun feiert das viel befehdete Projekt sein Jubiläum, doch die Geschichte droht sich zu wiederholen
Moritz Schwarz

Frau Popiolek, hätten Sie geglaubt, daß Ihre Gedenkbibliothek politisch überleben wird?

Popiolek: Ihre Frage, sehr geehrter Herr Schwarz, beantworte ich mit einem Satz eines meiner politischen „Überväter“, zu denen Hermann Kreutzer zählt: „Wir haben mit der Gedenkbibliothek so manche Schlacht verloren, aber  den Krieg werden wir gewinnen!“ Dieser Satz durchzieht meine „in Zeiten von Corona“ geschriebene „Geschichte der Gedenkbibliothek. Erinnern als Befreiung“. An der Wiege meiner geborenen Idee, verbotene Bücher zu sammeln, um aufzuklären über Ursachen und Folgen des Sowjetkommunismus, standen im Aufbruchsherbst 1989 Lesehungrige, aber  auch  nicht nur Freiheits- und Demokratiesüchtige.

Warum dann Schlachten schlagen, das klingt doch völlig konsensfähig?

Popiolek: Von Konsensbemühung und Meinungstoleranz nach der Diktaturerfahrung in der DDR sollte diese kleine Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus getragen und durch Francis Fukuyamas 1992 erschienenes verheißungsvolles Werk „Das Ende der Geschichte“ bestätigt werden. Darauf hofften wir.

Allerdings gehörten Sie nie zu den Bürgerrechtlern in der DDR. Warum nicht?

Popiolek: Mein Mann und ich hatten keinen Kontakt zu  Kirchengemeinden, an denen sich Bürgerrechtsgruppen vor 1989 kristallisierten. Ich habe es später bereut, diese Erfahrung nicht gemacht zu haben. Aber den 4. November – die größte Demonstration – auf dem Berliner Alexanderplatz erlebten wir mit!

Wenn Sie kein eigenes Leid im Kommunismus erfahren haben, warum ist Ihnen das Thema dann heute so wichtig?

Popiolek: Auch wenn ich aus keinem politischen Elternhaus komme – in dem meine Mutti aber stets für Bücher als Lebenshilfe sorgte –, interessierte ich mich schon immer für Politik, vor allem ab 1968. Meinen Mann erschütterte im August 1968 als Student, wie Sowjetpanzer in Prag den Aufstand niederwalzten. Und als ich zwölf Jahre später in Warschau den Kampf meiner Freunde als Solidarnosc-Aktivisten erlebte und die Geheimrede Chruschtschows in Polnisch bekam, übersetzte ich einiges davon, was ich durch meinen „Guru“, den Sowjetliteraturwissenschaftler Doktor Ralf Schröder in seinen Vorträgen über die Ideologie des Kommunismus bestätigt bekam, der in einer Repressionswelle neben Janka und Harich 1957 bis 1964  in Bautzen saß und geduldeterweise in den achtziger Jahren regelmäßig im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Ost-Berlin über die Vorperestroikaliteratur, das heißt über Schriftsteller unter Stalins Diktatur sprach.

Nämlich, was bekamen Sie da bestätigt?

Popiolek: Daß es im Kommunismus nur vorgegebenermaßen um eine „gute Idee“, um die Gleichheit und soziale Gerechtigkeit auf der Welt, aber in ihrer Umsetzung nur um Macht geht, um Macht über die Köpfe der Menschen, die in ihrem Glauben an das Heilsversprechen ihre als notwendig erklärten Ketten lieben. Wie überzeugend hat das die russische Schriftstellerin Alja Rachmanowa in ihrem 1935 erschienenen Roman „Fabrik des neuen Menschen“ beschrieben. In unserer Dauerausstellung bieten wir eine Gegenüberstellung der „Fabrik  des neuen Menschen“ mit Versprechen, Indoktrination, Angst und Terror. Präsentiert anhand von ihren Werken wie denen von Alexander Solschenizyn, stellen wir die Aufklärungsgedanken von Lessing und Mendelssohn zur „Erziehung des Menschengeschlechts“ mit den Prinzipien Demut – auch vor dem Göttlichen – Freiheit, Toleranz und Liebe gegenüber. Doch damit greife ich schon vor aufs Heute. Damals in den siebziger und achtziger Jahren lebten wir als Familie wie so viele in der Nische und so wenig wie möglich angepaßt. Warteten wir eigentlich doch nur aufs Rentenalter, um dann in den Westen zu gehen.

Aber dann kam ja der Fall der Mauer.

Popiolek: Sie können sich diese Zeit kaum  vorstellen, eine Zeit voller Elan, Begeisterung und Hoffnung, als ich mit der Idee kam, verbotene Bücher aus unserem heimlichen  Privatschatz, wie Solschenizyns „Archipel Gulag“ und Leonhards „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ neben noch einigen anderen, interessierten Lesern zum Lesen in einem dazu einzurichtenden Raum in unserem Haus anzubieten. 

In Ihrem Haus – was sagte denn Ihre Familie dazu?

Popiolek: Die Idee stieß bei meinem Mann, anders als bei unseren Studenten-Söhnen, leider nicht auf Gegenliebe. Also suchte ich nach einer anderen Möglichkeit, verbotene Bücher und Lesehungrige zusammenzubringen. Ich rief Bärbel Bohley an, machte sie neugierig und durfte ihr an ihrem Küchentisch vier Stunden lang meinen Plan einer Sammlung verbotener Bücher vortragen, den ich dann umsetzen durfte mit Bittschreiben im Namen des „Neuen Forums“ um Bücher, Spenden und Kontakte. So konnte ich auch Jürgen Fuchs gewinnen als späteren Vorstandsvorsitzenden neben Bärbel Bohley in einem sich bald konstituierenden Förderverein für die „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“, der bis heute existiert.

Warum aber sollte der geschichtsinteressierte Berlin-Besucher Ihre Gedenkbibliothek aufsuchen, statt etwa das Mauermuseum am Checkpoint Charlie oder die Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen?

Popiolek: Oh, er sollte alle drei Orte besuchen! Denn jeder bietet etwas anderes: Das Haus am Checkpoint Charlie stellt die deutsche Teilung, die Mauer und deren Überwindung dar, Hohenschönhausen zeigt die bedrückende Welt der Zellen und Gefängnishöfe des SED-Repressionsapparates. Unsere Bibliothek  aber bietet Einblick in das gesamte sowjetkommunistische System.

Konkret?

Popiolek: Mittlerweile umfaßt unsere Sammlung 14.000 Werke zur Sozialismusforschung, DDR-Geschichte, Sowjetunion, zu den Repressionsapparaten und Verbrechen, Haft- und Lagererinnerungen sowie Literatur oppositioneller DDR-Schriftsteller und Dissidenten des Ostblocks. Aber eben nur Bücher anzubieten reichte uns bald nicht. 

Sie wollten aus einer Leihbibliothek eine Institution machen?

Popiolek: Genau: Mit über siebenhundert Vorträgen haben wir die Bibliothek auch als Ort der politischen Bildung etabliert. Und mit ihren Räumen, einschließlich des benachbarten Lessinghauses, bietet sie Platz für Ausstellungen und Begegnungen mit Zeitzeugen und Opfern. Unsere drei Pfeiler sind also:  Spezialbibliothek, Vortragsort sowie  Ausstellungs- und Begegnungsstätte.

Nun haben Sie zum dreißigjährigen Jubiläum die Geschichte der Gedenkbibliothek aufgeschrieben – mit ihren persönlichen Gedanken …

Popiolek: ... und mit den auf dem Buchumschlag als Vögel wegfliegenden freien Gedanken …, natürlich meinen, aber auch begleitet von einem Vorwort durch Vera Lengsfeld und einem Nachwort durch Professor Konrad Löw. Setzt in Zukunft einmal jemand die Geschichte fort, wird er sie dann aus seiner Perspektive schreiben. 

Sie berichten darin auch vom Zerwürfnis mit den Bürgerrechtlern. Wie kam es dazu?

Popiolek: Mit dreißigjährigem Abstand sowie mit Vergeben und Verzeihen konnte ich in meinem Buch diesen tragischen Teil der Bibliotheksgeschichte ohne Groll und Verurteilung derjenigen schreiben, die der Bibliothek Mitte der neunziger Jahre das Aus bereiten wollten. Es war nach der Zeit des „Märchens“ 1990 bis 1993, die Zeit der „Horrorgeschichte“ – zwar auch mit Lichtblicken –, um nun ab Ende der neunziger Jahre die Zeit eines gut lesbaren „Romans“ geworden zu sein. Ja, das ist diese einmalige und erstmalige Spezialbibliothek, wie sie Professor Wolfgang Leonhard bei ihrer Eröffnung vor dreißig Jahren nannte, geworden. Die Rufmordkampagne mit schlimmen Folgen: Mit Mittelstreichung, jahrelangem rechtlichen, aber schließlich erfolgreichen  Dagegenklagen, mit Brandanschlägen und Wasseranschlag, mit komplizierten Vorstandswechseln, zwei Umzügen und erschütternden persönlichen Schicksalen segelte das Bibliotheksschiff in rauher See.

Aber warum haben die Bürgerrechtler sich gegen Ihre Bibliothek gewandt? 

Popiolek: Einige, aber eben die, die in der Öffentlichkeit präsent waren und Sorge trugen, mit unseren Namen politisch beschädigt werden zu können. Sie suchten leider keinen Diskurs und hatten in unseren Augen nicht genügend Verständnis für das Opfertum und den Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR als Vorläufern der späteren Oppositionellen. Diese inzwischen betagten, schwer traumatisierten Menschen waren in der Frühzeit der Bibliothek am Hausvogteiplatz unsere häufigsten Besucher, Menschen, die bisher über die grausamen Verbrechen unter den Kommunisten in Ostdeutschland wie auch im Gulag schweigen mußten. Sie fragen, warum einige der Bürgerrechtler so handelten?  Die Antworten darauf können Bärbel  Bohley und Jürgen Fuchs nicht mehr geben. Auch nicht auf die Frage nach den Möglichkeiten eines „Dritten Wegs“ …. Sie waren strikt gegen SED und Stasi, aber bestand nicht die Gefahr einer Bevormundung im Namen des Guten und Moralischen?

„Bevormundung im Namen des Guten und des Moralischen“ – das erinnert an heute ...

Popiolek: Das empfinden viele so. Arte hat gerade einen Film gezeigt, der die Dystopien George Orwells und Aldous Huxleys gegenüberstellt und unsere Zeit dazwischen sieht – mit China als Vorhut?

Wenn unser Heute laut Arte irgendwo zwischen den totalitären Albträumen Orwells und Huxleys rangiert, dann hat ja die ganze Aufklärungsarbeit Ihrer Bibliothek über Kommunismus, sprich Totalitarismus, also gar nichts gebracht?

Popiolek: Diese Frage stelle ich in meinen „Schlußgedanken“ im Buch: „Was wäre gewesen, wenn es diese Gedenkbibliothek nicht gegeben hätte …“ und  schließe meinen  Fragen die von Manes Sperber im „Verbrannten Dornbusch“  an. Ja, hat sich etwas geändert? Haben Opfer mit ihren Schicksalen, Referenten aus Politik, Zeitgeschichte, Justiz und Kultur, all die temporären wie auch unsere Dauerausstellungen, großen Veranstaltungen und Konzerte in der Nikolaikirche oder im Roten Rathaus ein wenig Licht ins Diktaturdunkel gebracht, hat die Öffentlichkeit all das wahrgenommen? Haben wir Spuren hinterlassen? Ja, auch heute gibt es das große Versprechen der „guten Idee“, die Welt vor dem Untergang zu retten oder „gerecht“ zu machen. Doch dahinter lauert auch die totalitäre Versuchung: Wie damals werden auch in unserer Zeit politische Inhalte so überstilisiert, daß es irgendwann beginnt, plausibel zu erscheinen,  dafür Demokratie und Freiheit erst einzuschränken, dann, gewöhnen sich die Menschen an diese Logik, abzuschaffen. Ja, sie werden zunehmend im Namen des Guten sogar selbst danach verlangen. Ich sehe uns tatsächlich, wie 1989, erneut an einer Wegscheide.  Nur schienen damals die Wege ins Licht zu führen. Heute, denkt man an den Arte-Film, führen sie in die Dunkelheit? Trotzdem aber mögen wir uns für Frieden und Freiheit leiten lassen von Liebe, Glaube und Hoffnung!     






Ursula Popiolek, die 1943 im brandenburgischen Finow geborene Slawistin ist Gründerin und Vorsitzende der Berliner  „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus“ (anfangs: „des Stalinismus“). Zu deren dreißigjährigem Bestehen erscheint nun ihr Buch „Erinnern als Befreiung. Die Geschichte der Gedenkbibliothek, erzählt von Ursula Popiolek“.   

Foto: Schädel von Opfern des Kommunismus in Kambodscha und Protest gegen das Vergessen kommunistischer Verbrechen in der Ukraine: „Indoktrination, Angst und Terror“


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