© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Stelle die Stakeholder zufrieden und kassiere
„Der große Neustart“ und das Davoser Weltwirtschaftsforum 2021: Die Coronavirus-Epidemie als Hebel zur Reichtumskonzentration
Björn Harms

Wohl kaum ein Thema polarisiert derzeit in den sozialen Netzwerken so sehr wie der „Great Reset“, der große Neustart. Die zunächst harmlos wirkende Floskel machte erstmals Anfang Juni die Runde, als das Weltwirtschaftsforum eine Initiative ankündigte, die helfen sollte, die Welt nach der Corona-Pandemie zu einem „besseren Ort“ zu machen. „Der Große Neustart ist eine Verpflichtung, gemeinsam und dringend die Grundlagen unseres Wirtschafts- und Sozialsystems für eine gerechtere, nachhaltigere und widerstandsfähigere Zukunft zu schaffen“, hieß es in einer ersten Pressemitteilung der Stiftung, die alljährlich in Davos die wirtschaftlichen und politischen Eliten der Welt versammelt. Es brauche einen „neuen Gesellschaftsvertrag“, in dessen Mittelpunkt „Menschenwürde“ und „soziale Gerechtigkeit“ stünden. Wirtschaftliche Entwicklung sowie gesellschaftlicher Fortschritt sollten Hand in Hand gehen. Dabei erinnert der Begriff „Great Reset“ zunächst an frühere, floskelhafte Mottos des Weltwirtschaftsforums wie „Die Welt nach der Krise gestalten“ (2009) oder „Die große Transformation“ (2012). Was hat es nun mit dem großen Neustart auf sich?

Im Juli 2020, nur wenige Monate nach dem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie, präsentierte der Chef des Weltwirtschaftsforums, der 71jährige Deutsche Klaus Schwab, ein knapp 200seitiges Buch, das die Initiative genauer erklärt. Einen Normalzustand, das stellt Schwab schon im Vorwort von „Covid-19: The Great Reset“ klar, den soll und wird es nie wieder geben. „Viele von uns machen sich Gedanken darüber, wann sich die Dinge wieder normalisieren werden“, schreibt er. „Die kurze Antwort lautet: nie. Nichts wird jemals wieder das ‘zerbrochene’ Gefühl der Normalität zurückbringen, das vor der Krise herrschte, denn die Coronavirus-Pandemie markiert einen grundlegenden Wendepunkt in unserer globalen Entwicklung.“ Schlußendlich gehe es darum, „die Welt weniger spaltend zu machen, weniger verschmutzend, weniger zerstörerisch, integrativer, gerechter und fairer“.

Die Linke wird integriert, die Rechte kleingehalten

Um die halb schön, halb bedrohlich klingenden Worte einzuordnen, braucht es zunächst einen genaueren Blick auf die Ideenwelt der Davos-Elite. Wirtschaftswissenschaftler Schwab gilt als Verfechter des sogenannten Stakeholder-Kapitalismus, für den er sich 2020 im „Davos-Manifest“ stark gemacht hatte und der auch im aktuellen Buch eine große Rolle spielt. Ein Unternehmen soll sich demnach darauf konzentrieren, die Bedürfnisse aller seiner Stakeholder zu erfüllen: Kunden, Aktionäre, Mitarbeiter, Partner, die Gemeinschaft und sogar die Gesellschaft als Ganzes. Umwelt-, Sozial- und Governance-Erwägungen würden „für eine nachhaltige Wertschöpfung immer wichtiger werden“, schreibt Schwab. Der grundlegende Zweck von Unternehmen liege „nicht mehr nur im zügellosen Streben nach finanziellem Gewinn“.

Doch sei dies, wie der Wirtschaftsautor Steve Denning zuletzt im Magazin Forbes feststellte, nicht mehr als ein leeres Etikett. „Der Stakeholder-Kapitalismus ist nichts weiter als ein ausgeklügelter Public-Relations-Gag, den das ‘Big Business’ betreibt, um die gegenwärtige PR-Krise zu überstehen.“ Eine PR-Krise, die aus dem jahrzehntelang gültigen System des Shareholder-Kapitalismus entstand, der sich ausschließlich an den Aktionären orientierte, die Gesellschaft als Ganzes aber außen vor ließ. Die Wirtschaft werde jedoch auch „weiterhin das tun, was sie seit jeher getan hat: Geld für sich selbst verdienen“, ist sich Denning sicher. Der Reiz des Stakeholder-Kapitalismus als öffentliche Haltung bestehe darin, daß er das Großkapital nicht zu etwas Bestimmtem verpflichtet. „Firmen können weiterhin privat Geld an ihre Aktionäre und Führungskräfte schaufeln, während sie gleichzeitig eine öffentliche Fassade von außerordentlicher sozialer Sensibilität und beispielhafter Uneigennützigkeit aufrechterhalten.“

Genau das zeige sich nun im „Great Reset“, meint auch Handelsblatt-Journalist Norbert Häring. „Wenn dir eine Bewegung gefährlich werden könnte und du sie nicht besiegen kannst, setz dich an ihre Spitze“, erklärt er auf seinem gleichnamigen Blog. Es gelte, die Diskussionen zu kontrollieren. Von grünen Klimaphantasien angefangen, bis hin zu linksradikalen LGBTQ-Debatten: Entweder man isoliert jene Themen eben rechtzeitig oder umarmt ihre Führungspersönlichkeiten. Und das Stakeholder-Prinzip, das alle gesellschaftlichen Dynamiken genauestens verinnerlicht, macht letzteres möglich. Greta Thunberg & Co. sind in Davos gerngesehene Gäste. Ausgewählte NGOs dürfen mit an Bord, um sich gegen Rassismus auszusprechen und Minderheitenschutz einzufordern.

Die Linke kann also – auch mitverschuldet durch ihre eigene Hinwendung zu identitätspolitischen Themen – problemlos in jene sich mehr und mehr etablierende Wirtschaftsform integriert werden. Sie wird mundtot gemacht und regelrecht mitgeschleift. Die Rechte wiederum hat keine fundierte Kritik an dieser Wirtschaftsform, oder aber sie wird durch die Beherrschung der weltweiten Kommunikationskanäle von BigTech und den großen Medienkonzernen kleingehalten. Die liberale Oberschicht bleibt unangetastet.

Sieben der zehn Reichsten       aus der Tech-Branche

Und so sprechen die in der Corona-Pandemie rasant gestiegenen Vermögen der Wirtschaftselite für sich. Eine Studie des US-Thinktanks „Institute for Policy Studies“ untersuchte die Zahlen genauer: Als der Dow Jones in der vergangenen Woche die 30.000er-Marke überschritt, näherte sich gleichzeitig das Vermögen der knapp 650 US-Milliardäre einer Summe von vier Billionen Dollar – was ein kaum vorstellbares Wachstum von einer Billion Dollar seit März 2020 bedeutet. 29 Milliardäre haben ihr Vermögen seit März 2020 sogar verdoppelt. Als größte Krisengewinnler gelten Elon Musk, dessen Vermögen seit Beginn der Pandemie um über 100 Milliarden Dollar wuchs, und Amazon-Chef Jeff Bezos, dessen Vermögen von 113 Milliarden Dollar am 18. März um über 70 Milliarden Dollar auf mittlerweile 186 Milliarden Dollar stieg.

Bezeichnenderweise stammen sieben der zehn reichsten Menschen der Welt mittlerweile aus der Technologie-Branche. Genau hier knüpft auch der große Neustart an. Schwab spricht von der „Vierten Industriellen Revolution“, eine These, die er schon 2016 in einem gleichnamigen Buch vorgestellt hatte. Mobiles Internet, Big Data, Künstliche Intelligenz, Sensoren, Drohnen, Gen-Sequenzierung, Nanotechnologie und maschinelles Lernen würden immer enger verzahnt werden, die Krise habe jene Entwicklung nur beschleunigt. Die Revolution werde „eine der größten gesellschaftlichen und individuellen Herausforderungen, die die Technik mit sich bringt, akzentuieren: die Privatsphäre“, verdeutlicht Schwab in seinem aktuellen Buch. Die Menschheit werde sehen, wie „die Ermittlung von Kontaktpersonen“ quasi unverzichtbar für die Bekämpfung von Covid-19 werde, während sie „gleichzeitig so positioniert ist, daß sie eine Massenüberwachung ermöglicht“.

Das alles mündet bei Schwab in transhumanistischen Vorstellungen: „Die Vierte Industrielle Revolution wird zu einer Verschmelzung unserer physischen, digitalen und biologischen Identität führen“, erklärte Schwab jüngst in einer Rede vor dem Chicago Council on Global Affairs.

Ein Strategiepapier zum „Great Reset“, veröffentlicht durch die Arbeitsgruppe „Digitale Transformation“ des Weltwirtschaftsforums, prophezeit gleichzeitig ein Sterben von kleineren Unternehmen, die sich dem Wandel verschließen: „Nicht-digitale Unternehmen wird es nicht mehr geben“, heißt es. Doch der technologische Wandel bleibt eine Top-Down-Angelegenheit, die Selbständigkeit von unten als wenig förderlich ansieht. Kleinere Unternehmen sollen direkt ans Big Business angebunden werden. „Innovative Partnerschaften zwischen Tech-Firmen, Banken, Regierungen und Bildungsträgern können die digitale Transformation für kleine Unternehmen beschleunigen“, so die Verfasser des Papiers, darunter viele Top-Manager großer Konzerne. Beispielgebend wird etwa eine Tochterfirma des chinesischen Tech-Giganten Alibaba hervorgehoben, die eine Plattform für Mikrokredite geschaffen hat, auf der kleine Unternehmen anhand von Big Data sekündlich genau bewertet und durchleuchtet werden und gegebenenfalls einen notwendigen Kredit erhalten.

Wie diese technologische Gesellschaft der Zukunft aussehen könnte, hatte die EU-Abgeordnete Ida Auken (Sozialliberale), ehemalige Umweltministerin in Dänemark, bereits 2016 und 2019 in zwei futuristischen Essays auf der Seite des Weltwirtschaftsforums dargestellt. „Willkommen im Jahr 2030“, begrüßte sie dort die Leser. „Willkommen in meiner Stadt – oder sollte ich sagen: unserer Stadt. Ich besitze gar nichts. Ich besitze kein Auto. Ich besitze kein Haus. Ich besitze keine Geräte und keine Kleidung.“ Alle Bewohner hätten kostenlosen Zugang zu Transport, Unterkunft, Nahrung und anderen alltäglichen Dingen. Einkaufen gehen werde zunehmend unnötig. „Manchmal möchte ich einfach, daß der Algorithmus das für mich erledigt“, schreibt Auken. „Er kennt meinen Geschmack inzwischen besser als ich.“

Eine erste Aussprache zum „Great Reset“ soll bereits Ende Januar stattfinden. Klaus Schwab lädt zu einer digitalen Konferenz, den „Davoser Dialogen“, „in denen wichtige globale Führungskräfte ihre Ansichten zum Zustand der Welt im Jahr 2021 austauschen werden“, wie es heißt. Ursprünglich sollte auch das reale alljährliche Gipfeltreffen im Januar 2021 wie gehabt im Wintersportort Davos stattfinden. Nun aber wurde die Veranstaltung in die Luxushotel-Anlage im Kurort Bürgenstock am Vierwaldstättersee verlegt, wo vom 18. bis 21. Mai diskutiert werden soll. Ironischerweise gehört die Anlage einer Tochtergesellschaft des Staatsfonds von Katar. Einem Land also, das es bekanntermaßen mit sozialer Gerechtigkeit, geschweige denn mit nachhaltigen Konzepten nicht gerade ernst nimmt. Was wohl Herr Schwab darauf antworten würde?

Das Weltwirtschaftsforum und die Davos-Agenda, 25. bis 29. Januar 2021:

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