© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn

Im Vorbeigehen zwei Typen, der eine zum anderen: „Und Corona-Zeiten brechen dir nicht das Genick?“ Darauf der andere relaxt: „Nö, die Leute sind daran gewöhnt.“ Diese Antwort hinterläßt bei mir ein wirkliches „Berufsgeheimnis“, aber nur für kurze Zeit. Dabei hätte eine zeitgenössische Ausgabe von Robert Lembkes heiterem Beruferaten unter dem Titel „Was bin ich?“ durchaus Potential – angesichts der unüberblickbar vielen neuen, vor allem digitalen Berufsfelder. Noch relativ ungewohnt, besonders ab dem späten Nachmittag, sind die Lieferservice-Boten, die mit ihren Elektrofahrrädern ebenso lautlos wie blitzschnell an einem auf dem Gehweg vorbeihuschen – offenbar echte „Fachkräfte“, die mit dem – wortwörtlich – flüchtigen Übertritt in den Schengen-Raum bereits ihre Professionalität unter Beweis gestellt haben. 


Dabei führt das unter dem Corona-Schutz-Regime entstehende Gefühl der sanften Prohibition zu einer neuen Gesprächsbereitschaft. So berichtet mir in der Nachbarschaft ein arbeitsloser Konzertveranstalter, der hier als selbsternannter Corona-Beauftragter den Ausschank absichert, daß der Shutdown im Event-Bereich bereits etlichen das Genick gebrochen habe, etwa die Hälfte aller Caterer und Sicherheitsdienste – so seine Erfahrung – seien inzwischen pleite gegangen. Anders dagegen die Clan-Familie, die dem Zahnarzt nebenan auf den Zahn fühlten, als sie ihn – nach „organisierter“ Geschäftsaufgabe wegen Insolvenz – noch mehrere zehntausend Euro „Abstand“ abknöpften. Da hatten – wie mir berichtet wird – also auch nicht die dreimal 9.000 Euro geholfen, die diese Clan-Familie für ihre Geldwäscherei-Betriebsstätten eingestrichen hatten. 


Für die Schülerinnen in der Unterstufe, die ich auf dem Gehweg am Garten der Gethsemane-Kirche überhole, ist Corona kein Thema, sie denken in deutlich größeren und überzeitlichen Zusammenhängen. Die drei Mädchen, das größte auf den Namen Greta hörend, diskutieren lautstark: „Das war Jesus!“ – „Nein, das war Zeus!“ – „Dann muß die Maria mit Gott ja Sex gehabt haben.“ Auf meine Nachfrage, was sie denn mit „das“ meinen, um was „es“ also gehe, lautet die Antwort des einen Mädchens: „Na, der die Welt erschaffen hat.“ Darauf die andere: „Nein, der die Menschen erschaffen hat“, und schließlich das Mädchen in der Mitte, im ermahnenden Ton: „Greta, das ist doch eine Frage der jeweiligen Religion.“ Denke danach unwillkürlich an den Talmudspruch: „Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“ Da kann das Klima wirklich warten.