© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Sind Germanen nur eine fiktive Konstruktion?
Wissenschaft: Der Begleitband zu einer großen Berliner Ausstellung präsentiert neben Spitzenforschung auch viel Ideologie
Wolfgang Müller

Der Europäische Forschungsrat backt mit seiner höchstdotierten Förderlinie keine kleinen Brötchen. Allerdings dürfen sich über die auf diesem Niveau gewöhnlich ausgeschütteten Millionensummen regelmäßig nur die mit teurem „Großgerät“ experimentierenden Mediziner oder Naturwissenschaftler freuen. Da ist der 72jährige, am Institute for Advanced Study in Princeton tätige Mediävist Patrick J. Geary schon die große Ausnahme, wenn er als Kulturwissenschaftler und überdies Nicht-Europäer zehn Millionen Euro empfängt.

Den Batzen Bares haben der federführende Geary und einige Mitstreiter wie der Wiener Mediävist Walter Pohl bekommen, um Gräber der Völkerwanderungszeit zu untersuchen, genauer: 6.000 archäologische Körperfunde aus dem gesamten Karpatenbecken. Warum sind diese „alten Knochen“ den Brüsseler Bürokraten so viel Geld wert? Darüber gab Geary im letzten Frühjahr deutschen Kollegen in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausführlich Auskunft (FAZ vom 20. Mai 2020). Das an die jüngste Mode in seiner Disziplin, die Erforschung menschlicher Vergangenheit anhand des Erbguts, der Quelle DNS, andockende Projekt „HistoGenes“ wolle mittels genetischer und Isotopen-Analysen neues Licht in die „Migrationsepoche“ der Völkerwanderung zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert nach Christus bringen. Aber natürlich nicht, wie sein anfangs verstörtes Auditorium fürchtete, um an die dunkle Ära „biologistischer Essentialisierung“ von Geschichte im Namen von Volk und Rasse anzuknüpfen. Keinesfalls beabsichtige er eine Revitalisierung der „berüchtigten völkischen Siedlungsarchäologie“ im Geist des die Erforschung der germanischen Vorgeschichte als „hervorragend nationale Wissenschaft“ etablierenden Berliner Prähistorikers Gustaf Kossinna (1858–1931), die in der Zwischenkriegszeit die Prähistorie nicht allein in Deutschland dominierte.

Die Akzeptanz von Völkern nicht hinnehmen

Geary weiter: Es gehe ihm nicht darum, für die von Kossinna so genannten „Kulturprovinzen“, die der Bandkeramiker etwa, der Großgräbererbauer oder Streitaxtleute, Träger in Gestalt „biologischer Einheiten“ von Stämmen und Völkern zu bestimmen. Ganz im Gegenteil: am Ende des Unternehmens dürfte seine These glücklich untermauert sein, daß Kulturen nicht in Ethnien als „homogenen sprachlichen und biologischen Einheiten“ wurzeln.   

Dieses Versprechen von „HistoGenes“, die Bedeutung ethnischer Homogenität zu negieren oder zumindest zu minimieren, rechtfertigt es aus der Sicht Brüsseler One-World-Enthusiasten allemal, in das Unternehmen Gearys, der auch, als deren Campus noch in Budapest lag, als Gastdozent an der von George Soros finanzierten Central European University lehrte, zehn Millionen Euro zu investieren. Zumal dieser insoweit mit seinen Geldgebern harmonierende überzeugte Gegner des Nationalstaats schon vor bald zwanzig Jahren phantasierte, daß Nationalismus automatisch in „Rassismus, Krieg, Holocaust“ münde und deshalb die gesellschaftliche Akzeptanz von „Völkern als objektiven Tatsachen“ nicht hinzunehmen sei.

Angesichts eines solchen Atavismus  sei die Interpretation des frühen Mittelalters für ihn auch „keine rein akademische Angelegenheit mehr“. Vielmehr wolle er als Historiker pädagogisch eingreifen und den sich gegen Masseneinwanderung und Islamisierung sperrenden Europäern erklären, daß solche Entwicklungen, die sie „feindselig und ängstlich als neuartige Phänomene“ beargwöhnen, „in Wahrheit eine wünschenswerte Rückkehr zu einem weit älteren Muster ethnischer Vielfalt darstellen“. Als Einwanderungskontinent beginne sich Europa ja lediglich seiner Vergangenheit während der „Migrationsepoche“ vor 1.500 Jahren „anzugleichen“, als es keine ethnische Homogenität und keine Nationen gab („Europäische Völker im frühen Mittelalter“, Frankfurt/M. 2002). 

So hört sich die geschichtsideologische, mit dem Princeton-Gütesiegel beglaubigte Flankierung des „Großen Austausches“ an. Diesen Kontext eines sich seit den 1990ern in der Vor- und Frühgeschichte vollziehenden disziplinären Paradigmenwechsels, weg von den ethnischen Bezugsgrößen Volk und Völker, hin zu anonymen „vielfältigen Gruppen“ und „bunten Aggregaten“, einen Wechsel, den der geschichtsfremde Grünen-Vorsitzende Robert Habeck kürzlich auf die so primitive Formel brachte „Volk gibt es nicht“, sollte im Hinterkopf haben, wer sich in den prächtigen Begleitband zur derzeit pandemiebedingt geschlossenen, unter anderem von der Bertelsmann-Stiftung und dem ZDF geförderten Berliner Ausstellung „Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme“ vertieft.

Schon in den ersten Absätzen des Vorwortes der beiden Ausstellungsleiter Michael Schmauder (LVR-Landesmuseum Bonn) und Matthias Wemhoff (Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin) findet sich eine Verbeugung vor Geary. Ihm erweist dann ebenso Schmauders Einleitung Reverenz, wenn er den berühmten ersten Satz aus Walter Pohls für „Studenten, Geschichtslehrer und interessierte Laien“ verfaßten, bis heute maßgeblichen enzyklopädischen Überblick zum Thema Germanen (München 2000) wie ein Leitmotiv der Schau formuliert: „Ein Volk, das sich Germanen nannte, hat es vielleicht nie gegeben.“ 

Das hier artikulierte Unbehagen, ja der unverhohlene Widerwille, sich mit „Germanen“ überhaupt noch beschäftigen zu müssen, grassierte bereits in der Planungsphase. „Immer wieder“ habe man diskutiert, ob man den Begriff „Germanen“ noch verwenden dürfe. Schließlich habe doch die Ausstellung des Bremer Focke-Museums („Graben für Germanien“, 2013) der Öffentlichkeit dessen Instrumentalisierung durch NS-Institutionen und die „Rolle führender Archäologen“ nach 1933 anschaulich vor Augen geführt. Letztlich entschied man sich aber „einhellig“ dafür, weil der Begriff sich vor dem Hintergrund seiner Entstehung aus römischer Perspektive weiter eigne zur Kennzeichnung der Übergangsepoche von der Antike zum Mittelalter. Trotzdem durchsetzt das ursprüngliche Ressentiment die meisten der Texte, die sich nicht auf die sachliche Beschreibung der Ausstellungsobjekte beschränken. 

Opulent bebilderte Präsentation

Die Germanen seien eine „fiktive Konstruktion“, beharrt in seinem Beitrag der in der DDR marxistisch-leninistisch sozialisierte Sebastian Brather (Freiburg) auf der Position seiner gegen die „ethnische Deutung“ wütenden 800seitigen Habilitationsschrift (2004). Schmauder, Wemhoff und andere sich hier zu Wort meldende Anhänger des „postmodernen Konstruktivismus“  entblöden sich nicht, sich zustimmend auf die intellektuelle Bankrotterklärung von Pohls Wiener Lehrer Herwig Wolfram zu beziehen, wonach die Germanen und die von ihnen geprägte Völkerwanderungszeit nicht exklusiv zur deutschen Geschichte gehörten, sondern auch zu der der Spanier, Rumänen, Griechen, Türken und Tunesier, weil sie deren heutige Territorien während ihrer „Migration“ von Nord nach Süd einmal bewohnt oder wenigstens berührt hätten.

Von solchem geschichtsklitternden Unfug aus ist es nicht mehr weit zu der von Schmauder beifällig zitierten, inzwischen das weltanschauliche Vorverständnis der meisten Fachvertreter aussprechenden Philippika Jörg Jarnuts (Paderborn): „Was sollen wir von einem historischen Begriff halten, der eine Großgruppe entweder voraussetzt oder konstituiert, die es wohl nie gegeben hat, die sich selbst jedenfalls nie als solche empfand und dementsprechend sich auch niemals so bezeichnete?“ Was solle man von diesem Begriff halten, der seit Beginn der Neuzeit zwei Dutzend Generationen von vornehmlich deutschen, von ihrer eigenen Gegenwart frustrierten Intellektuellen, Professoren und anderen Schulmeistern eine Goldgrundvergangenheit anbot, auf die sich „das Kämpferische, Heldische, Edle, Schöne […] so wunderbar projizieren ließ, das man in der eigenen Welt so schmerzlich vermißte?“ Und endlich holt Schmauder mit Jarnut zum geschichtspolitisch letalen Vernichtungsschlag aus: „Wie stellen wir uns zu einem Begriff, der als gebieterisches rassistisches Attribut mit dem Konzept des Herrenmenschen verbunden die massenhafte, industriell organisierte Ermordung nichtgermanischer sogenannter ‘Untermenschen’ geistig vorbereiten und begleiten konnte?“

Auf derartig ideologischem Müll gedeiht nicht allein die „radikal linke“, wie der Historiker und Anthropologe Andreas Vonderach meint („Gab es Germanen?“, 2017), sondern die heute vielmehr stark neoliberal-globalistisch eingefärbte „universalistische Utopie einer Welt, in der es keine Völker und Nationen mehr gibt, sondern nur ‘Menschen’ – No border, no nation“.

Wer dem entgehen möchte, konzentriere sich auf den eigentlichen Schwerpunkt des Bandes, die opulent bebilderte Präsentation der mit modernen technisch-naturwissenschaftlichen Methoden archäologischer Exzellenzforschung in den letzten Jahrzehnten freigelegten Hinterlassenschaften der zwischen Rhein und Weichsel siedelnden germanischen Stämme. Und er lese dazu den Beitrag Heiko Steuers (Freiburg), des weißen Raben unter den germanophoben Kollegen, der jene ungeachtet einer zentralen Organisationsform vorhandenen „Gemeinsamkeiten in Germanien“, Abstammung, Sprache, Kultur, Lebensstil, Wirtschaft, ungebrochener Selbstbehauptungswille gegenüber den Römern, herausarbeitet, die die Lebensverhältnisse dieser Stämme „grundsätzlich“ gegen ihre europäischen Nachbarräume abgrenze. 

Gabriele Uelsberg / Matthias Wemhoff (Hrsg.): Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme. Begleitband zur Ausstellung, wbg Theiss Verlag, Darmstadt 2020, 640 Seiten, farb. Abb., geb., 50 Euro