© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Das zerbrochene Versprechen des schwedischen Volksheims
Geborgenheit in Rinkeby
Oliver M. Haynold

Die nordischen Sprachen haben einen Schatz schöner Wörter, die sich nur ungenau ins Deutsche übertragen lassen. Seit einigen Jahren soll alles, aus dem Dänischen, „hyggelig“ sein – sogar in den Duden hat das Wort Eingang gefunden. Im Schwedischen gibt es das etwas damit verwandte Wort von der „Trygghet“ mit dem Adjektiv „trygg“. Etymologisch ist dieses Wort mit „treu“ und „true“ verwandt, und die Wörterbuchübersetzung ist „sicher“, aber das trifft es nicht wirklich. „Trygghet“ bezeichnet das subjektive Gefühl, daß einem in der Gemeinschaft eines sozialen Verbandes, insbesondere der Familie, oder möglicherweise auch in der Sicherheit des festen christlichen Glaubens nichts zustoßen werde.

Im Musical „Kristina från Duvemåla“ taucht „grenzenlose Trygghet“ als Gegenteil davon auf, in eine „gefährliche, fremde Welt geworfen“ worden zu sein. Als bestmögliche deutsche Übersetzung mag daher nicht „Sicherheit“ gelten, sondern „Geborgenheit“. Eine Bildersuche bei Google ergibt als erste Treffer Fotos von Menschen unterschiedlicher Generationen, die sich die Hände halten.

Wie kommt man nun dazu, ausgerechnet jetzt über Trygghet zu schreiben? Nun, das schwedischen Fernsehens präsentierte auf seinem Online-Auftritt einen Artikel, der die „Trygghet“ in ironischer und trauriger Weise in ihr Gegenteil verkehrt. Da war zu lesen: „Die Polizisten, die in dem neuen Polizeirevier in Rinkeby arbeiten, werden durch spezielle Patrouillen geschützt werden, wenn sie nach den späten Abend- oder nach Nachtschichten Dienstschluß haben. Dies dient zum Schutz der eingeteilten Polizisten, die im September im Revier zu arbeiten anfangen. Die Sicherheit und Geborgenheit [‘trygghet’] unseres Personals zu priorisieren ist keine schwere Entscheidung, erklärte Frida Nordlöf, dienstführende Gebietsleiterin in Rinkeby, den SVT Nachrichten.“

Personenschutz ist nun eigentlich genau das Gegenteil von Trygghet. Man benötigt ihn gerade in der oben genannten „gefährlichen, fremden Welt“, zu der Rinkeby, ein Stadtteil von Stockholm, exemplarisch geworden ist. Mit hinreichend wirksamem Personenschutz fühlt man sich vielleicht sicher, aber geborgen bestimmt nicht. Das völlige Ende der Geborgenheit kommt, wenn uniformierte Polizisten, die auch außer Dienst ihre Pistole tragen dürfen, nicht mehr sicher durch die Stadt laufen oder fahren können, sondern für den ganz normalen Weg von oder zur Arbeit Personenschutz brauchen. Das kann man nur so interpretieren, daß die Verhältnisse so geworden sind, daß einen, wenn die Angreifer einen einzeln zu fassen bekommen, auch eine Feuerwaffe nicht mehr schützt. Trygg geht anders.

Wenn es schon so weit gekommen ist, daß sich sogar Polizisten nicht mehr sicher in der Öffentlichkeit bewegen können, mithin von der versprochenen Geborgenheit auch der letzte Rest verflogen ist, dann ist das Konzept des „Volksheims“ endgültig hinüber.

Noch weniger geborgen dürften sich freilich alle anderen fühlen, die keine Uniform mit ihrem impliziten Versprechen, daß ein Angriff Ärger gibt, tragen, denen das Führen einer Feuerwaffe versagt wird, und die keinen Personenschutz bekommen. Wenn bewaffnete Polizisten Personenschutz brauchen, dann kann man sich ausrechnen, wie sich eine junge Frau fühlen wird, die alleine mit der U-Bahn zur Nachtschicht fahren soll.

Die Überlegungen, wie man es überhaupt so einrichten kann, daß man Polizisten bekommt, die in Rinkeby Dienst zu tun bereit sind, kommen nicht von ungefähr. Daß im September ein Polizeirevier dort eröffnet wurde, hängt nämlich damit zusammen, daß 2014 nach Angriffen auf das alte Revier dieses schlicht geschlossen wurde. Die Polizei hat sich zurückgezogen. Der Bau eines größeren Reviers zog sich dann hin, weil Baufirmen schwere Angriffe auf ihr Personal befürchteten. Das neue Revier hat Schutzvorrichtungen gegen Beschuß und Explosionen, die man eher in einem militärischen Objekt vermuten würde.

Nun hat die Geborgenheit in Schweden einen großen Stellenwert in der Politik, ist sie doch das zentrale Versprechen der schwedischen Sozialdemokratie seit den 1930er Jahren. Während die radikalen korporatistischen Bewegungen des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus zu dieser Zeit sich an der Kriegswirtschaft und dem Gemeinschaftserlebnis der Front im Ersten Weltkrieg orientierten, schickten sich die schwedischen Sozialdemokraten an, die Geborgenheit einer glücklichen Familie auf die ganze Nation als eine große Familie auszudehnen, in der sich jeder geborgen fühlen kann. Das Versprechen dieser Geborgenheit war die Rechtfertigung dafür, die Steuern ins Unermeßliche zu treiben, und die Akzeptanz dieses Versprechens war der Grund dafür, daß die Schweden erst zu meckern anfingen, als ihr Einkommensteuersatz 100 Prozent überschritt, wie es Astrid Lindgren 1976 passiert ist, was sie in ihrer Erwachsenengeschichte „Pomperipossa in Monismanien“ verarbeitet und verspottet hat.

Das Versprechen, die ganze Nation als große Familie zu organisieren, „Volksheim“ oder auf schwedisch „Folkhemmet“ genannt, in der auf weniger brutale Weise und mit mehr Freiheiten als im Kommunismus jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitet und die Arbeitsergebnisse größtenteils in die gemeinsame Kasse wirft, dafür auch jeder nach seinen Bedürfnissen bekommt, war natürlich von Anfang an problematisch.

Ein Nationalismus, der so intensiv wäre, daß die Bindung an die Nation, damit auch die Bereitschaft für sie abzugeben und Leistungen nicht auszunutzen, so groß wäre wie die Bindung an die Familie, wäre ungesund und vermutlich aggressiv, wurde im Grunde auch nie so eingefordert. Damit entstanden dann die vorhersehbaren Probleme, daß sozialer Aufstieg ohne Steuervermeidung unmöglich war, und daß die soziale Hängematte doch nicht glücklich macht, sondern eher in den Alkoholismus im sozialdemokratischen Plattenbau treibt. Die Sache hatte auch ganz dunkle Seiten wie eine begeisterte Umsetzung eines Programms für Rassenhygiene und Eugenik; auch die Entscheidung, ob man Kinder bekommen sollte, wurde auf die große Familie der sozialdemokratisch regierten Nation verlagert.

Wenn man aber soweit ist, daß sich selbst Polizisten nicht mehr sicher in der Öffentlichkeit bewegen können, mithin von der versprochenen Geborgenheit auch der letzte Rest verflogen ist, dann ist das Konzept des „Volksheims“ endgültig hinüber. Daß man nachts nicht mehr auf die Straße kann, das ist wirkliche „soziale Kälte“, und daß im Winter die Nächte nicht nur kalt, sondern arg lang sind, macht die Sache nicht besser.

Diese Entwicklung war bei der schwedischen Politik der ungeregelten Masseneinwanderung in die Sozial­systeme eigentlich vorhersehbar. Die Leistungsbezieher fühlen sich ganz offensichtlich nicht als Teil einer großen schwedischen Familie, und trotz des Leistungsbezugs sind sie mit ihrer Lage im Plattenbau nachvollziehbar unzufrieden, was sich dann in unkontrollierten Gewaltausbrüchen entlädt. Gewalt, Brandstiftung, Krawall, und all dies vor dem Hintergrund eines Stadtteils, in dem autochthone Schweden schon lange nicht mehr nennenswert vertreten sind, das ist nicht das versprochene Volksheim.

Ein Heim, auch ein sozialdemokratisches, braucht, ob es einem gefällt oder nicht, eine Haustür, und es kann nicht jedem erlauben, hereinzukommen und bestenfalls die Vorratskammer leerzuräumen, schlimmstenfalls auch gleich das Wohnzimmer anzuzünden. 

Die schwedische Polizei betreibt eine Liste von mittlerweile 60 „gefährdeten Gebieten“, auch bekannt als „No-go-zones“, weil Rettungsdienst und Feuerwehr ohne Polizeischutz kaum noch dort hineinkönnen, und auch die Polizei nur unter Einschränkungen. Die Kriminellen begnügen sich längst nicht mehr mit Kurzwaffen, sondern greifen gleich zur Handgranate oder zur Bombe, mit solcher Häufigkeit, daß die Polizei in Malmö die Einwohner vor der Gefahr durch nichtexplodierte Sprengkörper gewarnt hat – das kennt man sonst eigentlich nur aus dem Krieg oder bestenfalls vom Truppenübungsplatz. Trygg ist da schon lange nichts mehr.

Wie zu erwarten, hat sich gegen diese Entwicklungen eine Gegenbewegung gebildet, die Schwedendemokraten. Die werden oft als Rechtsextremisten bezeichnet, aber in vielerlei Hinsicht sind sie eher die letzten Anhänger der skandinavisch-sozialdemokratischen Idee des Volksheims. Ein Heim, ob es einem gefällt oder nicht, braucht eine Haustür, und es kann nicht jedem erlauben, hereinzukommen und bestenfalls die Vorratskammer leerzuräumen, schlimmstenfalls auch gleich das Wohnzimmer anzuzünden.

Wie ebenfalls zu erwarten, haben die Altparteien und die etablierten Medien dagegen eine Wagenburg gebildet, welche auf die offensichtlichen Probleme und Widersprüche nur noch damit regieren kann, den Meinungskorridor zu verengen und seine Übertretung zu ahnden. Wo die Hoheit über die Straße schon längst und offensichtlich verloren ist, bleibt noch die Meinungshoheit. Sehr gut – und aus gar nicht „rechter“ Sicht, aber trotzdem zu heiß für das Fernsehen – wurde das in dem extrem sehenswerten Dokumentarfilm „A Swedish Elephant“ thematisiert.

Als Kanarienvogel in der Mine, dessen Leiden dem aufmerksamen Betrachter die Gefahr frühzeitig vor Augen führen sollte, kann in Schweden, wie so oft, die jüdische Gemeinschaft dienen. Jüdische Gemeinden können die Aufwendungen für Sicherheit nicht mehr stemmen, und nicht jeder hat Lust, seine Religion unter Gefährdung seines Lebens auszuüben.

Die Folge ist, daß jüdische Gemeinden mit ihrem Aussterben binnen eines Jahrzehnts rechnen, durch das Wegsterben der Alten und die Emigration oder die Distanzierung der Jungen. Sogar in den besseren Stadtteilen von Stockholm ist es eine sehr schlechte Idee für die persönliche Sicherheit, auch nur einen winzigen Davidstern als Anhänger einer Halskette zu tragen, und die Synagoge wirkt auch eher festungsartig als einladend. Die Täter sind Einwanderer, aber die Mehrheitsgesellschaft schaut zu und beschäftigt sich lieber mit der Anerkennung „Palästinas“ als Staat, auch wenn dem offensichtlich jede Staatlichkeit fehlt.

Aus der versprochenen Trygghet wird in der Tat eine „gefährliche, fremde Welt“, in die sich die Schweden gestoßen sehen, und nicht nur die Schweden. Schweden mit seiner wunderschönen Sprache, seinen Seen, seinen Sommerwiesen und seinen Lucia-Feiern ist allemal eine Reise wert. Aber es ist kälter und dunkler geworden, und nicht nur wegen des Laufs der Jahreszeiten.






Dr. Oliver M. Haynold, Jahrgang 1978, wuchs im Schwarzwald auf und lebt in Evanston, Illinois. Er studierte Geschichte und Chemie an der University of Pennsylvania und wurde an der Northwestern University mit einer Dissertation über die Verfassungstradition Württembergs promoviert. Er arbeitet seither als Unternehmensberater, in der Finanzbranche und als freier Erfinder.

Foto: Schweden als große Familie beim Johannisfest (l.) und die „gefährliche, fremde Welt“ von Stockholm-Rinkeby: Die schlimme Entwicklung war vorhersehbar