© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Im Aufstand für Bürgerrechte
Christian Lübcke rechnet mit einhundert Jahren Marinehistorie zur Kieler Matrosenrevolte von 1918 ab
Oliver Busch

Europäische Revolutionen begannen in der Regel in den hauptstädtischen Zentren der Macht: London 1688, Paris 1789, 1830, 1848, 1871, Wien und Berlin 1848, Sankt Petersburg 1917. Bei ihrem ersten, wirklich erfolgreichen Versuch in der Umsturzbranche schlugen die Deutschen hingegen wieder einmal einen Sonderweg ein. Die Novemberrevolution 1918 nahm ihren Ausgang an der Peripherie des Reiches, in der norddeutschen Provinz. Nach einem Ende Oktober noch erstickten Rumoren an Bord der vor Wilhelmshaven ankernden Hochseeflotte kam es ausgerechnet im Kriegshafen Kiel, das im Vergleich zu den Nordseehäfen oder den Torpedoboot- und U-Boot-Basen an der flämischen Küste im Herbst 1918 als Ausbildungs- und Rüstungszentrum noch tiefste Etappe war, am 3. November zum blutigen, von der Werftarbeiterschaft unterstützten Matrosenaufstand. 

Viele Historiker haben Gang in die Archive gescheut

Die Folgen dieser größten Meuterei in der deutschen Militärgeschichte sind bekannt. In Kiel wurde das Ende der Hohenzollernmonarchie und des deutschen Kaiserreiches eingeläutet, das dann am 9. November in Berlin die Ausrufung der später so genannten Weimarer Republik besiegelte. Was sich im scheinbar nur provinziellen Rahmen entwickelte, mündete binnen einer Woche in einer Umwälzung weltgeschichtlichen Formats. Wer jedoch glaubt, der schicksalsschweren Bedeutung dieser Vorgänge entspreche deren emsige historische Aufarbeitung und man wisse nach hundert Jahren doch alles über den „Kieler Matrosenaufstand“, den will Christian Lüdtke jetzt eines Besseren belehren (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4/2020). Der Historiker, der als Landesgeschäftsführer des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Hamburg tätig ist, untersucht die Rezeption der Meuterei in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung und kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, daß hier eine riesengroße Forschungslücke klafft. Die auch von den zahlreichen Publikationen, die zum Jubiläumsjahr 2018 erschienen sind, nicht geschlossen wurden. Deren Verfasser, wie vor allem Mark Jones („Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik“, JF 4/18), den Kieler Geschehnissen partout den Stempel ihrer so hochmodischen wie ahistorischen Gewalttheorien aufdrücken wollten, den Gang in die Archive indes gescheut hatten. „Diese Autoren hinterfragten weder frühere Aussagen in der Literatur und Forschung, noch machten sie den Versuch, neues Quellenmaterial zu erschließen.“ 

Das ist bei Christian Lübcke ganz anders. Der trumpft stolz damit auf, nicht nur alle wesentlichen militärgeschichtlichen Werke, sondern „mehrere tausend Dokumente in staatlichen und kommunalen Archiven“ ausgewertet und erstmals private Aufzeichnungen führender Admirale herangezogen zu haben. Wie minutiös er diese reiche Ausbeute in seinen Texten präsentiert, belegten zuletzt die schmale Monographie „Revolution in Kiel“ (2017) sowie eine haarfeine Rekonstruktion der weichenstellenden „Sechs Tage im November“ in der Marinestation Ostsee (Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Band 143/44-2018/19). Beide Mikrostudien korrigieren zählebige Legenden zur lokalen Dramaturgie, verharren jedoch in der positivistischen Erzählung und geizen mit Deutungen. Die liefert nun sein rezeptionsgeschichtlicher Aufsatz in Hülle und Fülle, der zur scharfen Abrechnung mit der unter vier deutschen Regimen stets geschichtspolitisch maximal ambitionierten Marinehistoriographie gerät.

Schon 1919 sammelte die Marineführung einen Berg von Augenzeugenberichten für eine offiziöse Darstellung des Matrosenaufstands. Doch nicht um sich mit einigem Recht als Mitbegründerin der demokratischen Weimarer Republik zu inszenieren, sondern um sich vom Makel zu befreien, „rote Revolutionäre“ in den Sattel gehoben zu haben. Mit der Bearbeitung des ausschließlich die Offizierssicht dokumentierenden Materials wurde 1929 der pensionierte Kapitän zur See Karl Wilhelm Weniger beauftragt, der am 5. November 1918 an Bord des Linienschiffes SMS „König“ einen Matrosen bei dem Versuch erschoß, die Kriegsflagge niederzuholen, dabei die Offizierskameraden Bruno Heinemann und Wolfgang Zenker neben sich fallen sah und selbst schwer verwundet worden war. 

Obwohl ein Mann mit diesem Hintergrund die Gewähr für eine die „Ehre der Marine“ rettende Interpretation zu bieten schien, gab der damalige Marinechef, Admiral Erich Raeder, das 1934 endlich abgeschlossene Manuskript nicht zum Druck frei. Ihm mißfiel selbst Wenigers verhaltene Kritik am Krisenmanagement verschiedener Kieler Admirale. Unter den durch die NS-Machtübernahme radikal veränderten politischen Vorzeichen stand „zersetzende“ Kritik einer grundlegenden Neubewertung der Kieler Revolte ohnehin im Wege. Denn fortan galt die Masse der beteiligten Matrosen Marinehistorikern als verführte Opfer der „jüdisch-kommunistischen Novemberverbrecher“. Einige ihrer Rädelsführer mußten gar emigrieren, um der Gestapo-Überwachung oder der KZ-Haft zu entgehen. Nach Wenigers von Matrosenkugeln niedergestreckten Kameraden Heinemann und Zenker wurden hingegen zwei neue Zerstörer der Kriegsmarine benannt. 

Exzellentes Thema für die Traditionsstiftung

Deren Offiziere bauten die junge Bundesmarine auf. Jeder von ihnen hatte in den 1920ern die Maxime verinnerlicht, ein „November 1918“ dürfe sich in ihrer Teilstreitkraft „nie wiederholen“. Den Vize-Admiralen Friedrich Ruge und Karl-Adolf Zenker, den ersten Inspekteuren, lag daher daran, die Traditionskette bis zurück zur Kaiserlichen Marine zu stärken, unbehelligt von Forschungen zum Matrosenaufstand, die „nichts mit Wahrheitsfindung zu tun“ (Ruge) haben konnten. Als ein als „rot“ verschriener Brigadegeneral 1958 in der Marineschule Mürwik eine Lanze für zwei bereits 1917 hingerichtete Meuterer brach, die er für „bedeutender“ hielt als die Großadmirale Erich Raeder und Karl Dönitz, verließ die versammelte Marineoffiziers-Korona geschlossen den Saal. In diesem Geist ignorierten auch stockkonservative Marinehistoriker des 1958 gegründeten Militärgeschichtlichen Forschungsamtes noch bis in die 1970er die Aufständischen, während ihre zwar liberaler urteilenden Nachfolger bis heute nichts taten, um die Breite der Bewegung jenseits der Schauplätze Wilhelmshaven und Kiel zu erforschen. Die war in der DDR zwar kein Stiefkind der Militärgeschichte, aber ideologisch bis zur Unkenntlichkeit derart entstellt, daß im Prokrustesbett marxistisch-leninistischer Doktrin „teilweise völlig verzerrte Bilder entstanden“. 

Mithin sei jetzt ein Neuansatz der Forschung zu fordern, um das „wahre Ausmaß des Aufstandes“ zu erfassen, dessen Botschaften agitierende Matrosen, Kieler „Sturmvögel der Revolution“, an der Küste bis nach Königsberg und Memel sowie tief ins Binnenland hineingetragen hätten. Von der Bundeswehr lasse sich ein Thema mit solchem Potenzial exzellent für die Traditionsstiftung nutzen. Denn nur 1918, schwärmt Lübcke, nun seinerseits enthemmt ideologisierend, erhoben sich „Hunderttausende von Soldaten für demokratische Freiheits- und Bürgerrechte“, unter ihnen eine noch unbekannte Zahl von Offizieren, die in der Reichswehr prodemokratisch wirkten und den Nationalsozialismus ablehnten. Ob, wie es der in der Kriegsgräberfürsorge engagierte junge Historiker Lübcke in anachronistischem Leichtsinn voraussetzt, die von ihrer politischen Führung zeitgeistkonform auf „Diversität“ getrimmte Bundeswehr überhaupt noch empfänglich ist für eine spezifisch deutsche Demokratie-Tradition des „mündigen Bürgers in Uniform“, ist sehr zu bezweifeln. 

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