© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Er, Kant, der Rassist
Universitäre Diskussionsreihe rückt den Stichwortgeber der Menschenrechte in die Nähe von Unmenschen
Mathias Pellack

Was muß man tun, um als Rassist zu gelten? Genügt es, zu behaupten, daß Rassen existieren? Oder muß man Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe schlechter behandeln als andere? Oder ist gar die Tatsache, daß jemand die Unterschiede zwischen Individuen verschiedener menschlicher Populationen erkennt, schon Ausdruck von Rassismus? Was ist gleichsam die Bedingung der Möglichkeit, um als Rassist zu gelten, könnte man mit dem Vordenker der Aufklärung Immanuel Kant fragen.

Diese Frage zu beantworten, so verlangt es die Vernunft, gehört vor jede Untersuchung über die konkrete Verurteilungswürdigkeit einer Person. Zumal wenn auf der Anklagebank der Königsberger Philosoph und Stichwortgeber des Grundgesetzes Immanuel Kant sitzt – der Vordenker von allgemeiner Menschenwürde und der Menschenrechte.

Nun wurde in einer Runde von lehrenden Professoren und Doktoren der namhaften Universitäten Frankfurt am Main, Jena, Siegen, Koblenz und Luxemburg – veranstaltet von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), die das Vorhaben betreibt, die Werke Kants einer Neuedition und Revision zu unterziehen und gut 200 Jahre nach seinem Tod zum Abschluß zu bringen, – tatsächlich diese Frage diskutiert: „Kant – ein Rassist?“

„Vordenker der Menschenwürde und des Rassismus“

Wer glaubt, daß mit offenem Ausgang diskutiert wird, sieht sich schon vor Beginn der Onlinediskussion mit der Lektüre des einleitenden Textes enttäuscht: „Vortragende und Teilnehmende verschiedener Fachdisziplinen reflektieren in der gemeinsamen Debatte die philosophische und historische Tragweite der rassistischen Äußerungen Kants, auch mit Blick auf die Gegenwart.“

Kant hat sich rassistisch geäußert, ergo ist er ein Rassist. Hätte der Autor Kants Vorlesungen zur Logik gehört oder wenigstens darüber gelesen, wüßte er, daß das eine klassische Petitio Principii ist – ein Zirkelschluß, indem man „denjenigen Satz, den man hat beweisen wollen, seinem eigenen Beweise zum Grunde legt“ (Kant).

Ein nicht beteiligter und ehrenwerter Philosophielehrer und Kant-Spezialist erklärte der JUNGEN FREIHEIT die Sachlage eindrücklich unter Bezug auf Kants Antipoden, den britischen Philosophen David Hume. Hume schrieb, es sei „sinngemäß unmöglich, eine Debatte zu führen, wenn die Begriffe nicht deutlich sind.“ So verhalte es sich auch mit der Frage, ob Kant ein Rassist war oder nicht. Die Debatte werde „eher nicht in der Absicht geführt, ein wissenschaftliches oder interpretatorisches Problem zu lösen“. Vielmehr gehe es darum, „Kant ‘aus dem Diskurs’ zu nehmen.“ Ziel sei es letztlich, „den Rationalismus der alten weißen europäischen Männer – und mit ihm die Ideen, Menschenwürde, Vernunft, Menschenrechte und die weltbürgerliche Denkungsart“ zu diskreditieren. 

So gibt denn auch der Philosoph Markus Willaschek (Goethe-Universität Frankfurt) in der Diskussion zum Besten: „Kant war ein Vordenker der Menschenwürde und des Rassismus.“ Also könnte es doch sein, daß „der moralische Universalismus nur eine Mogelpackung war?“ Das ist eine Hinterfragung von ungeheurer Tragweite. Denn ohne moralischen Universalismus gäbe es keine Menschenwürde respektive keine Menschenrechte, zumindest aber würden diese nicht allgemein Geltung beanspruchen können.

Daß Dieter Schönecker (Universität Siegen) wiederholt die Frage nach der genauen Bedeutung der Aussage „der oder jener ist ein Rassist“ aufwarf und sich bemühte, die Diskussionsrunde über das Stammtischniveau zu hieven, indem er bat, eine Definition dessen zu liefern, was es denn eigentlich bedeutet, Rassist zu sein, tat all dem keinen Abbruch. Im Gegenteil fühlte sich der Jurist Cengiz Barskanmaz, welcher am Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung arbeitet, berechtigt, die Liste der Vorwürfe gegen Kant noch um den Punkt „Antisemitismus“ zu erweitern. „Wir sollten fragen: ‘War Kant ein Antisemit?’“, ergänzte er in einem als „Replik“ angepriesenen Koreferat. Kants Schriften seien schließlich laut Léon Poliakov „die metaphysische Form des Schreis: ‘Tod den Juden!’“

So reihte sich fast zwei Stunden Vorwurf auf Vorwurf, abwechselnd durch die Referenten Barskanmaz, den Koblenzer Historiker Christian Geulen („Rassentheoretiker haben sich unter anderem auch auf Kant bezogen, um Kulturgeschichte und Rassengeschichte zusammen zu denken.“), die Jenaer Philosophin Andrea Esser („Schaut man sich Kants Quellen an, sieht man, er nutzte Quellen, die selbst bereits eine Abwertung vornahmen“) und den Moderator und Kant-Spezialisten Markus Willascheck vorgebracht. Die Einigkeit wurde nur sporadisch von Schönecker unterbrochen, der sagte: „Ich vermag aber keinen verborgenen Rassismus erkennen, der Kants Moralphilosophie untergraben könnte.“ 

Schlimmer als die möglichen Auswirkungen eines versteckten „Rassismus“ sei, daß der „Concept Creep“ (die schleichende Ausweitung eines Konzepts auf ähnliche Phänomene) des Rassismus Kant in eine Ecke rücke, in die er nicht gehöre. Anders ausgedrückt erkennt Schönecker die Gefahr, daß Kant „zum Opfer der sogenannten Cancel Culture werden könnte.“