© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Wenn die revolutionäre Sondermoral herrscht
Der Literaturwissenschaftler Günter Scholdt über Parallelen aus Brechts „Maßnahme“ und der AfD
Thorsten Hinz

Der emeritierte Literaturprofessor, politisierte Zeitgenosse und Autor dieser Zeitung Günter Scholdt hält die AfD für „die vielleicht letzte parlamentarische Chance“, um die Lage im Land noch zu wenden. Nur ist er sich nicht mehr sicher, ob es sich bei seiner Streitschrift um eine späte Warnung oder bereits um ein Requiem handelt. Der engagierte Tonfall spricht für die Warnung. 

Opfer einer „zivilreligiösen Mobilmachung“ 

Er beginnt mit einer germanistisch versierten Auslegung von Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“. In dem 1930 uraufgeführten berühmt-berüchtigten Bühnenwerk bricht eine Gruppe kommunistischer Agitatoren zu einem Propagandaauftrag von Rußland nach China auf. Um nicht erkannt und durchschaut zu werden, sollen sie Masken tragen und taktische Zurückhaltung üben. Der Junge Genosse aber läßt Emotionen zu, zeigt Mitleid mit den ausgebeuteten Kulis und offenbart seine Identität, womit er die Mission gefährdet. Seine Mitstreiter verurteilen ihn zum Tode. Bevor sie das Urteil vollstrecken, ersuchen sie ihn um sein Einverständnis. Sie bekommen es, doch anders als in Schillers „Don Carlos“ handelt es sich um kein in freier Entscheidung erbrachtes Selbstopfer, sondern um die erpreßte Zustimmung zu einem Mord, der ohnehin geschehen wird. Ein Kontrollchor bejaht die Maßnahme: „Euer Bericht zeigt uns wieviel/ Nötig ist die Welt zu verändern:“

Der stalinistische Geist dieses Dramas wird, wie Scholdt zeigt, in der bundesdeutschen Literaturwissenschaft negiert, geleugnet, bagatellisiert. Eine klammheimliche Sympathie darf wohl unterstellt werden. Brecht war klüger als seine Apologeten. Er wollte das Stück nicht mehr aufgeführt wissen. Scholdt hält es für „brandaktuell“, denn es „enthüllt eine nach wie vor gültige, nicht weniger primitive Praxis der Macht“, die eine „genauere sozialpathologische Studie“ verdient.

Da sind zunächst die formalen Parallelen: Die Unterordnung unter eine staatspolitische Räson wird auch heute gefordert, Moral, Gerechtigkeits- und Wahrheitssinn sind nachrangig und sogar störend. Freilich, im Unterschied zum Jungen Genossen landen Abweichler statt in der Kalkgrube nur im politischen Abseits oder auf dem medialen Scheiterhaufen.

Eine inhaltliche Parallele ist die ideologisch legitimierte, strukturelle Gewalt. So wie die Kommunisten aus der Überzeugung, eine neue, bessere Welt zu errichten, eine „revolutionäre Sondermoral“ ableiteten, die noch die blutigste Maßnahme rechtfertigte, findet heute eine „zivilreligiöse Mobilmachung“ der Altparteien, Kirchen, Organisationen – der Zivilgesellschaft – statt, die gleichfalls auf eine revolutionäre Umwälzung der gesamten Lebenswelt hinausläuft und Widerspruch niederkartätscht. Die rechtsstaatlichen Normen gelten nominell weiter, gleichzeitig aber schwebt über AfD-Aktiven das Damoklesschwert physischer Gewalt, der öffentlichen Ächtung und der sozialen Vernichtung, was sie zur Maskierung zwingt. Wie soll eine Partei sich dazu verhalten? Die „Realos“ wollen die ideologischen Grundlagen akzeptieren, um ihre Koalitionsfähigkeit nachzuweisen und im nächsten Schritt mit konkreter politischer Umsetzung Schlimmeres zu verhüten. Die „Fundamentalisten“ halten dem entgegen, mit Anpassung würde die Partei bloß Teil jener Politik, die sie ursprünglich verändern wollte.

Beide Standpunkte haben ein Für und Wider. Der Konflikt ließe sich entschärfen, so Scholdt, indem man zwischen Strategie und Taktik unterscheidet und ihre Dialektik begreift. Vor allem muß, wer andere befreien will, zunächst sich selbst befreien. So von der Vorstellung, daß – jenseits einschlägiger Narren und Krawallbrüder – der „Rechtsextremismus“ mehr ist als ein Konstrukt, mit dem politische Alternativen diskreditiert werden. Tatsächlich hat der Druck durch den Verfassungsschutz innerparteiliche Konfusionen bis hin zum Druck auf Abweichler erzeugt. Was die Erpreßbarkeit der Partei aufzeigt und den VS animiert, mit seiner Zersetzungsarbeit fortzufahren. Natürlich muß die Partei bei ihren Äußerungen und Aktivitäten den boshaften Mutwillen ihrer Gegner einkalkulieren. Das darf aber nicht dazu führen, daß sie sich ihre sondermoralische Extremismus-Definition zu eigen und zu deren Gefangenen macht.

Nicht die Einwände der anderen vorwegnehmen

Die Verteidigung der Meinungsfreiheit – zu der auch das Recht auf den verbalen Fauxpas gehört – muß ihr ernsthaft ein Anliegen sein. „Wer Klartext und ‘Mut zur Wahrheit’ verspricht, wird den Mainstream immer provozieren.“ Mit den Worten des Jungen Genossen: „Ich kann nicht schweigen, weil ich recht habe.“ Andernfalls wird die Partei, was Kurt Tucholsky den „Onkel Guido“ nannte: Einer, der die möglichen Einwände der anderen vorwegnimmt, statt seinen Standpunkt zu vertreten. Onkel Guido verspricht dem Neffen, sich beim Vater für ihn einzusetzen. „Er ordnet aber gar nichts. Er hat Angst. Er sagt: entweder und oder. Und einerseits, andererseits, vor allem andererseits, denn es ist das Charakteristikum Onkel Guidos, daß er sich immer den Kopf der anderen zerbricht. (…) Und dann bleibt alles beim alten. Schlimmer: durch Scheinzugeständnisse ist die Rolle des Sohns eine noch scheußlichere geworden.“ Der Sohn wäre – um im Bild zu bleiben – Deutschland, zu dem die AfD doch „Mut“ haben wollte. 

Günter Scholdt: Brechts „Maßnahme“ und die AfD. Kaplaken Band 72. Verlag Antaios, Schnellroda 2020, gebunden, 96 S., 8,50 Euro