© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/20 / 04. Dezember 2020

Prost Pestizid!
Der Weinbau als Begründer des chemischen Pflanzenschutzes in Europa / Neue „Wunderelixiere“ gegen alte Bioinvasoren
Dieter Menke

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Reblaus und später dann auch noch die von Pilzen entfachten Pflanzenkrankheiten Echter und Falscher Mehltau von Nordamerika nach Europa eingeschleppt. Diese drei „eingewanderten“ Weinfeinde vernichteten Millionen Hektar Rebflächen und trieben zahllose Winzer in den Ruin.

Mit der Abwehr dieser invasiven Organismen, so bilanziert der Umweljournalist Markus Wanzeck die bis heute andauernden Anstrengungen, habe der Weinbau den chemischen Pflanzenschutz in Europa begründet (Natur, 9/20). Den Schädling Daktulosphaira vitifoliae habe man nur mit importierten, auf heimische Gewächse gepfropften US-Weinpflanzen eindämmen können. Der Bioinvasor Echter Mehltau (Erysiphaceae) sei hingegen mit Schwefel bekämpft worden – „dem ersten Fungizid“. Gegen den Falschen Mehltau (Peronosporaceae) kam ab 1885 zunächst in Frankreich ein Kupfersulfat-Kalk-Gemisch, die „Bordeauxbrühe“, zum Masseneinsatz.

Allerdings blieb ein langfristiger Erfolg aus, so daß bis heute permanent neue „Wunderelixiere“ gemixt wurden. Die Palette reichte von Arsen über DDT bis zum angeblich „tollsten Insektizid der Welt“, den in den 1990ern eingeführten, inzwischen verbotenen Neonicotinoiden, die als „Dauerregen“ auf Weinpflanzen niedergingen. Pro Saison gelten gegenwärtig achtzehn „volle Anwendungen“ als Minimum. Kein Wunder, so zitiert Wanzeck den Pestizid-Experten Lars Neumeister, wenn die Weinländer Spanien, Frankreich und Italien zu den größten „Giftverbrauchern“ Europas gehören. Allein in Frankreich ordern Winzer ein Fünftel der offerierten Pestizid-Erzeugnisse, obwohl sie nur drei Prozent der französichen Agrarflächen bewirtschaften.

Die Kollateralschäden beschränkten sich nicht auf dezimierte Populationen von Vögeln oder nützlicher Insekten. Im Weinbau waren auch erste menschliche Pestizidopfer zu beklagen. Denn der Zusammenhang zwischen massivem Pestizideinsatz und hohen Krebsraten sei nachweisbar, etwa bei Schulkindern in einer Gemeinde unweit von Bordeaux. Regelmäßig, so Neumeister, würden durch die Lebensmittelkontrolle zudem Rückstände chemischer Pestizide in Weinen entdeckt. Und zwar in der Hälfte getesteter konventioneller Flaschenweine. Anders als für die Menschen, die in Weinbauregionen leben, sei das Krebsrisiko für Weintrinker allerdings relativ gering. Das beruhigt, denn Bio-Weine, die weitgehend ohne Schädlingsbekämpfungsmittel auskommen, sind in der Regel doppelt so teuer.

Deutscher Weinbauverband: www.dwv-online.de

Bundesverband Ökologischer Weinbau:  www.ecovin.de