© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

AfD-Richtungsstreit
Folgen einer Brandrede
Dieter Stein

Die Brandrede von AfD-Parteichef Jörg Meuthen auf dem Parteitag in Kalkar hallt immer noch nach. Wie eine auf den Tisch geschlagene Faust wirkte diese Ansprache – und sie führte zu heftigen Reaktionen. Daß einzelne Passagen berechtigte Kritik auf sich zogen (Stichwort Bismarck), ist letztlich nebensächlich. Entscheidend war, daß endlich Tacheles geredet und nicht zum x-ten Mal alles mit der verlogenen Soße der Harmonie („Seid einig, einig, einig!“) übergossen wurde. Vor der Bundestagswahl 2021 kämpft die AfD nämlich um nichts weniger als ihre Existenz.

Wenn man genauer hinsieht, haben wir es mit dem Sichtbarwerden von Führungswillen und dem notwendigen Abschied vom chaotischen „gärigen Haufen“ zu tun. Rückblickend begann diese Zäsur damit, daß sich eine stabile Mehrheit des Bundesvorstandes um Meuthen entschloß, alles daranzusetzen. Der anschwellende Aderlaß von Angehörigen der Funktionselite, Soldaten, Polizisten, Beamten wegen der unkontrollierten Drift nach Rechtsaußen und der gleichzeitig heranrückenden Gesamtbeobachtung durch den Verfassungsschutz erzwang die Entscheidung. Die Annullierung der Mitgliedsrechte für Andreas Kalbitz im Mai – ein Husarenstück –, entmachtete blitzartig den Koordinator des „Flügel“-Netzwerkes, das weit über die AfD hinaus in einschlägig rechtsextreme Milieus reicht. Man muß in dem Zusammenhang aufhören, um den heißen Brei herumzureden und die Dinge endlich beim Namen nennen!

Die Folgen dieses Schlags waren in Kalkar offensichtlich: Der buchstäblich kopflose „Flügel“ war nicht mehr zur Offensive in der Lage, demgegenüber entschieden die gemäßigten Kräfte trotz knapper Mehrheiten alle Personalfragen für sich.

Inzwischen scheint es nach zahllosen Auseinandersetzungen eingerastet zu sein, daß die Dinge endlich geklärt werden müssen. Die AfD hat es mit einer doppelten Feinderkennung zu tun: Auf der einen Seite eine wütend um sich schlagende politische Klasse, die den Verfassungsschutz rechtswidrig zur Diskriminierung der stärksten Oppositionskraft mißbraucht. Auf der anderen Seite ein teils mit erheblicher destruktiver Energie operierendes Netzwerk hinter dem „Flügel“, das mit dem Verfassungsschutz das Interesse teilt, die realpolitische Mehrheitsströmung in der AfD systematisch zu schwächen – und deshalb die existentiell notwendige juristische Abwehr gegen die Innenministerien nach Kräften sabotiert.

In Niedersachsen setzte sich jetzt bei der Aufstellung der Landesliste zum Bundestag der „Realo-Rollback“ fort, Spitzenkandidat wurde überraschend Ex-Bundeswehrgeneral Joachim Wundrak. Eins ist klar: Die größte Gefahr für das „Establishment“ geht nicht von einer AfD aus, die sich freiwillig radikalisiert und damit aus dem Rennen nimmt – sondern in der Lage ist, tief in die bürgerliche Mitte vorzudringen.