© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Ein Kommen und Gehen
Migrationsbericht: Neuer Höchststand bei Personen mit Migrationshintergrund / Hochqualifizierte wandern aus
Ronald Berthold

Deutschland bricht Rekord um Rekord: Noch nie lebten so viele Ausländer und mehr Menschen mit Migrationshintergrund zwischen Ostsee und Alpen wie 2019. Und noch nie emigrierten so viele Deutsche Richting Ausland. Weil immer mehr auswandern, ist trotz anhaltend starker Einwanderung der Wanderungssaldo weiter gesunken. Das geht aus dem aktuellen Migrationsbericht des Bundes-innenministeriums hervor.

Demnach sind 2019 mit 1,56 Millionen Menschen etwas mehr über die Grenzen gekommen als jeweils in den beiden Jahren zuvor. Deutschland bleibt Hauptziel von Migranten. Gleichzeitig wanderten 1,23 Millionen ab – nur 2016 waren es noch mehr. Unter dem Strich steht ein Plus von 327.000, so wenig wie seit 2011 nicht mehr. Das hat dennoch Folgen: Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund erreichte 2019 einen historischen Höchststand. 21,2 Millionen Menschen (26 Prozent) haben mindestens ein Elternteil, das nicht aus Deutschland stammt – 400.000 mehr als ein Jahr zuvor. 64 Prozent sind zugewandert, rund ein Drittel kam in Deutschland zur Welt. Die Hälfte besitzt einen deutschen Paß.

Der Ausländeranteil hat mit 12,5 Prozent ebenfalls einen neuen Rekord gebrochen. Inzwischen leben hier 11,2 Millionen Nichtdeutsche. Vor zehn Jahren waren es noch 6,7 Millionen. Wie dynamisch sich die Bevölkerungsstruktur verändert, zeigt ein Vergleich mit dem ersten Migrationsbericht von 2000. Seitdem sind 21,8 Millionen Menschen aus dem Ausland nach Deutschland eingewandert. Im selben Zeitraum zogen 16,3 Millionen fort.

Viele kommen aus Rumänien und Bulgarien

129.000 Ausländer erhielten im vergangenen Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft – so viele wie seit 2003 nicht mehr. Die größte Gruppe bildeten mit 16.200 wie zuvor die Türken. Mit einem Zuwachs von 120 Prozent folgen die Briten. 14.600 sicherten sich damit die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes. Die Ursache dafür dürfte im Brexit liegen.

Die Geschlechtsverteilung aller Zuwanderer bleibt auch 2019 unausgewogen. Insgesamt sind nur 38,6 Prozent weiblich. Mit mehr als 80 Prozent ist der Männerüberschuß aus Algerien am höchsten. Aus Thailand (73,5 Prozent) und Rußland (59,5 Prozent) kommen dagegen vorwiegend Frauen.

Viele Medien betonten die scheinbar beruhigende Zahl, daß 66 Prozent aller Migranten 2019 aus Europa kamen. Allerdings zählt die Bundesregierung die Türkei und Rußland jeweils komplett dazu. Auch Migranten aus Anatolien und dem ostasiatischen Kamtschatka gelten somit migrationsstatistisch als Europäer. Das Bild wird klarer, wenn man die Ausländer erfaßt, die von außerhalb der EU nach Deutschland zogen. Dies sind 47,3 Prozent.

Innerhalb der EU verzeichnet Rumänien den größten Aderlaß an Deutschland: 245.000 Personen wanderten von dort zu. Damit kamen seit 2010 insgesamt 1,8 Millionen aus dem südosteuropäischen Land, das 19,4 Millionen Einwohner zählt. Lediglich 675 Migranten aus Rumänien waren 2019 Deutsche – meist Siebenbürger und Banater Schwaben. 

Gemessen an der Bevölkerung bleibt auch die Zuwanderung aus dem zweiten europäischen Armenhaus hoch. Bulgarien mit seinen sieben Millionen Menschen gab im vergangenen Jahrzehnt zehn Prozent seiner Einwohner an Deutschland ab. Im vergangenen Jahr erreichte die Migration von dort ein neues Allzeithoch: 83.218. Auch die Zuwanderung aus der Türkei steigt weiter kontinuierlich: Von 30.000 im Jahr 2010 auf jetzt mehr als 51.000.

214.000 Menschen (13,7 Prozent aller Migranten) wanderten aus einem offiziell als asiatisch deklarierten Staat ein. Hier gaben 2019 erneut die meisten an, nämlich 25.000, aus Syrien zu kommen. Dies ist der tiefste Wert seit sechs Jahren. 2015 waren es noch 330.000.

Aus Afrika migrierten 4,2 Prozent der Zuzügler, die Mehrheit davon aus den nördlichen und islamisch geprägten Ländern des Kontinents: Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien. Ebenfalls in der Spitzengruppe der afrikanischen Herkunftsländer befindet sich das mehrheitlich muslimische Nigeria. 

Bemerkenswert: Auch 2019 waren die Behörden bei 158.000 Migranten – mehr als jedem zehnten – nicht imstande, zuzuordnen, aus welchem Land sie stammen. Das ist nach 2016 der zweithöchste Wert aller Zeiten. Die Zahl der deutschen Spätaussiedler spielt bei der Migration seit Jahren nur eine untergeordnete Rolle. Vergangenes Jahr wanderten 7.155 ein, vorwiegend aus Rußland und Kasachstan. An der Gesamtzahl der Migranten haben sie einen Anteil von 0,4 Prozent.

„Erhöhte Mobilität ist Folge der Globalisierung“

Laut Pressemitteilung des Innenministeriums zum 341 Seiten dicken Migrationsbericht „kommen mehr Menschen nach Deutschland, um zu studieren und zu arbeiten“. Allerdings bewegt sich dies immer noch auf niedrigem Niveau. Lediglich 46.000 Nicht-EU-Ausländer erhielten 2019 einen Aufenthaltstitel, um hier zu arbeiten. Die Mehrheit davon (54 Prozent) geht allerdings keiner qualifizierten Beschäftigung nach. Ihr Anteil ist – anders als es die Verlautbarung vermuten läßt – sogar noch gestiegen. Als „Fachkräfte“ zählte die Regierung nur 13.000 Menschen aus Nicht-EU-Ländern – ein Anteil von 0,8 Prozent an der Gesamt-Migration. Für sogenannte „Mangelberufe“ konnten davon nur 5.400 gewonnen werden. Relativ konstant bleibt die Zahl der Zuwanderer, die hier ein Studium beginnen: 2019 waren es 110.000 – nur 10.000 mehr als 2015.

Die Zahl der Asylbewerber ist dagegen zum zweiten Mal hintereinander gesunken. 142.509 Menschen stellten einen Erstantrag. Jeder vierte war tatsächlich oder vermeintlich Syrer – der Spitzenwert. Insgesamt sind das gut 20.000 weniger als im Vorjahr. Bis 2017 war die Zahl der sogenannten „Flüchtlinge“ neun Jahre in Folge gestiegen. 2016 erreichte sie einen absoluten Rekord mit 722.370 Erstanträgen. Nimmt man jedoch 2007 als Maßstab, war der Asylbewerber-Druck auf Deutschland auch im vergangenen Jahr immer noch ausgesprochen hoch. Vor 13 Jahren lag der Wert bei 19.164. Im vergangenen Jahr wurden 40.600 Ausländer dabei erwischt, illegal die Grenze überschritten zu haben. Die Zahl der Abschiebungen bleibt mit 2.900 jedoch relativ klein. Gleichzeitig wandern immer mehr Menschen ab. Ihr Wert nahm gegenüber dem Vorjahr um vier Prozent zu. Insgesamt verließen 270.000 Deutsche das Land, das sind 22 Prozent aller Auswanderer – in den vergangenen 20 Jahren summiert sich die Zahl auf insgesamt 3,3 Millionen. 

Daß Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im eigenen Land für die rasant steigende Abwanderung verantwortlich sein könnte, blendet der Migrationsbericht aus. Stattdessen heißt es: „Die erhöhte Mobilität von Deutschen ist Ausdruck der fortschreitenden Globalisierung.“ Besonders alarmierend für die Bundesregierung: Mehr als 80 Prozent der ausgewanderten Deutschen sind jünger als 50 Jahre. Und sie sind gut qualifiziert. Allein 1.900 Ärzte wanderten im vergangenen Jahr aus. 58.000 Deutsche – nur jeder fünfte – zog in einen der 26 anderen EU-Staaten. Rund 80 Prozent suchen ihr Glück woanders. Auf einzelne Länder bezogen, gingen die meisten (sechs Prozent) in die neutrale Schweiz. Es folgen Österreich (4,1 Prozent), die USA (3,6 Prozent) und Großbritannien (2,5 Prozent).