© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Von der Poststation ins Generationenhaus
Sozialpolitik: Beim Rentenkonzept der AfD bleiben noch manche Fragen offen / Ausgleich zwischen Familien und Kinderlosen geplant / Ende der Politikerpensionen
Jürgen Liminski

Die Demographie ist so gnadenlos wie die Mathematik. Und wie ein Virus kennt sie weder Vaterland noch Sozialsysteme. Aber anders als die Fünf-vor-zwölf-Rhetorik in Sachen Corona fristet die Bevölkerungswissenschaft ein Schattendasein in den Medien. Dabei ist sie der entscheidende Faktor der Zukunft. Und die drängt. Herwig Birg meinte schon vor Jahren: „Es ist dreißig Jahre nach zwölf.“ Mit anderen Worten: Es fehlen die nicht geborenen Kinder, die die Umlagesysteme wie Rente, Krankenkasse und Pflege als heutige Arbeitnehmer mitfinanzieren würden.

Seit zehn Jahren gibt es in der EU mehr Renteneinsteiger und Vorruheständler als Schulabgänger. Der Altenquotient (die Zahl der über 65jährigen im Verhältnis zu den 20- bis 65jährigen) liegt bei 40 Prozent. Um das System zu erhalten, werden zunehmend Steuermilliarden in die Rentensysteme gepumpt. In Deutschland wurde im November die 100-Milliarden-Marke übersprungen, das ist ein Drittel der ausgezahlten Renten. Wenn in den nächsten Jahren verstärkt die Baby-Boomer-Generation in Rente geht, wird der Altenquotient noch einmal dramatisch steigen. Dann wird die Ein-Drittel-Finanzierung nicht mehr reichen.

Rentenbonus nur für Kinder mit deutschem Paß?

Die Regierungsparteien sehen dieser Wahrheit nicht ins Auge. Eine Rentenkommission, die neue Pläne für die Zukunftssicherung ausarbeiten sollte, warf im März das Handtuch, weil die Parteispitzen von einschneidenden Reformen nichts wissen wollten. Seither dümpeln diverse Pläne in Arbeitsgruppen vor sich hin. Die AfD hat sich der Problematik gestellt. Auf ihrem Sozialparteitag im niederrheinischen Kalkar nannte die größte Oppositionspartei im Bundestag Zahlen und stützte sich dabei auf offizielle Statistiken.

Demnach wird der Altenquotient bis Mitte der 2030er Jahre auf 60 Prozent wachsen. Zur Wahrheit gehört auch, daß die Jüngeren, denen man seit Jahrzehnten einhämmert selber vorzusorgen, entweder das Geld dazu nicht haben – und wenn sie etwas sparen können, ist die Rendite wegen der Niedrigzinsen nicht der Rede wert. Da lebt man lieber wie die Politik nur noch in der Gegenwart, so wie Fjodor Dostojewski das in seinem Roman „Der Jüngling“ beschrieb: „Alle leben wir wie auf einer Poststation, und es ist, als müßten wir morgen schon hinaus aus Rußland, alle leben, als dächten sie: wenn’s nur für uns noch langt.“

Die AfD unternimmt mit ihrem Rentenkonzept den Versuch, die Poststation doch noch zum Wohnhaus auszubauen. Dafür hat sie acht Vorschläge. Das private Sparen etwa soll nach Punkt sieben der Staat übernehmen: mit 100 Euro pro Kind und Monat bis zum 18. Lebensjahr. Dieser Bonus soll allerdings nur für Kinder „mit deutscher Staatsangehörigkeit und Lebensmittelpunkt in Deutschland“ gelten – was Klagen bis zum Bundesverfassungsgericht geradezu herausfordert. Denn es ist grundgesetzlich kaum zu vermitteln, daß ausländischen Arbeitnehmern, die auch in die Rentenkasse Beiträge zahlen, dieser Kinderbonus vorenthalten werden soll.

Eine andere Frage ist der fixe, nur an die Inflation anzugleichende Betrag. Für manche ist es viel, für andere wenig. Wonach bemißt er sich? De facto handelt es sich um eine Form des vom Bundesverfassungsgericht im Pflege-und im Betreuungsurteil geforderten „generativen Beitrags“ (Zeugung, Betreuung und Erziehung). Das Gericht sah darin eine Frage der Leistungsgerechtigkeit.

In diese Richtung geht auch der Punkt 6. Dort heißt es: Die AfD möchte zwischen Familien und Kinderlosen „einen Ausgleich herstellen, indem Familien für jedes Kind 20.000 Euro Beiträge der Eltern zur Rentenversicherung aus Steuermitteln erstattet bekommen, ohne daß sich die Rentenansprüche dadurch verringern“. Sollten die Rentenbeiträge geringer sein, wird ein Teil mit den künftigen Beiträgen verrechnet. Aber ab wann soll das gelten? Ist das ein einmaliger Betrag? Welche Kriterien gibt es?

Beim Renteneintrittsalter will das AfD-Konzept flexibel bleiben. Wer länger arbeiten will, soll es in Absprache mit dem Arbeitgeber tun dürfen und dann entsprechend mehr Rente bekommen. Wer früher in Rente geht, soll Abschläge in Kauf nehmen. Es fehlt aber eine konkrete Jahreszahl, an der man messen kann, ob jemand früher oder später in Rente geht. Im Moment liegt das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren. Offenbar will die AfD daran nicht rütteln.

„Eindeutiges Bekenntnis zum Umlagesystem“

Seit Jahrzehnten schlagen Experten vor, das Renteneintrittsalter zu erhöhen und dem steigenden Lebensalter anzupassen. Daran orientiert sich der Altersquotient und davon hängt die Finanzierbarkeit des Umlagesystems ab. Die rentenpolitische Sprecherin der AfD-Bundestagsfraktion, Ulrike Schielke-Ziesing, meinte aber, sie „freue sich besonders über das eindeutige Bekenntnis zum Umlagesystem in der gesetzlichen Rentenversicherung“. Ist das auch das Bekenntnis zur Rente mit 67?

Klar sind hingegen die Beschlüsse bei den Beamtenpensionen. Sie bleiben erhalten, die Verbeamtung soll aber „auf rein hoheitliche Aufgaben beschränkt“ werden. Politikerpensionen sollen abgeschafft werden – sie sollen „wie andere Arbeitnehmer auch in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen“. Es sei nicht vermittelbar, daß unsere Volksvertreter bereits nach wenigen Jahren hohe Altersruhegeldansprüche sammeln und sie auch noch selber diese Regelung bestimmt haben.

Selbständige sollen „grundsätzlich in die Gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen“ werden. Sie könnten „aber bei Nachweis einer privaten Altersvorsorge austreten bzw. die Beitragszahlungen suspendieren“. Klarheit herrscht nun auch bei „der Überleitung der Ostrenten. Dafür wollen wir eine Fondslösung schaffen. Über 30 Jahre nach der Wende sollte hier endlich Gerechtigkeit walten.“ Es ist fraglich, ob der Versuch, die Poststation in ein Generationenhaus umzubauen, mit diesen Vorschlägen gelingt. Denn bei der Finanzierbarkeit des Rentensystems bleibt das AfD-Konzept noch vage. Man hätte die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen oder abschaffen können. Man hätte auch Kapitaleinkünfte in die Beitragsberechnung einbeziehen können. Das geht auch ohne grundlegende Steuerreform. Und dennoch: Im Vergleich zu den anderen Parteien im Bundestag ist dieses Konzept mutig. Man pfeift und spitzt nicht nur den Mund.