© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Vom Mythos des Heroischen umgeben
Klaviersonaten, Streichquartette, Sinfonien: Bis heute ist Ludwig van Beethoven in diesen musikalischen Formen das Maß aller Dinge / Eine Würdigung zu seinem 250. Geburtstag
Markus Brandstetter

Karl Marx’ Begräbnis war eine überschaubare Angelegenheit: Zwölf Menschen gaben dem selbsternannten Klassenkämpfer und Revolutionär, der gerne ein großer Philosoph und Wirtschaftstheoretiker geworden wäre, aber nur starke Meinungen zu verkaufen hatte, die Ehre. Ganz anders bei Ludwig van Beethoven: Dreißigtausend Menschen säumten die Straßen, als die Kutsche mit Beethovens Sarg von seiner letzten Wohnstätte, dem Schwarzspanierhaus, zur Dreifaltigskirche fuhr. Die Wiener wußten, daß hier einer der Allergrößten im Reich der Musik und auf jeden Fall der Größte seit Mozart zu Grabe getragen wurde.

Begonnen hat dieses Leben am 16. Dezember 1770 Bonn, wo Beethovens Vater als Tenorist in der kurfürstlichen Hofkapelle angestellt war. Beethoven hat sein Metier bei guten Lehrern früh gelernt und sich ein Leben lang weitergebildet, noch in Wien hat er bei Haydn Unterricht in Harmonielehre, bei Johann Georg Albrechtsberger in Kontrapunkt und bei Antonio Salieri Nachhilfe im Schreiben von Opernarien genommen. 

Der Komponist ist im Dezember 1792 nach Wien gegangen. Einmal, weil er bei Haydn, den er in Bonn kennengelernt hatte, Unterricht nehmen wollte. Zum anderen, weil der kurfürstliche Hof 1794 nach der Besetzung des Rheinlandes durch die Franzosen nach Wien geflüchtet und Beethoven damit die Rückkehr verwehrt war. In Wien erregt Beethoven anfangs durch sein virtuoses Klavierspiel und seine Fähigkeit, aus dem Stand heraus über jedes gegebene Thema zu improvisieren, Aufsehen und findet dadurch auch schnell die Unterstützung adeliger Mäzene, allen voran die Fürsten Lobkowitz und Lichnowsky. Letzterer setzt Beethoven ein Jahresgehalt aus und stellt ihm in seinem Palais eine Wohnung und Proberäume zur Verfügung. Obwohl Beethoven von Anfang an durch sein Selbstbewußtsein dem Adel gegenüber und seine energische, nicht selten schroffe Art auffällt, ist dem musikliebenden Wiener Publikum bald klar, daß es hier mit dem größten Komponisten seit Mozart zu tun hat.

In einem in der Musikgeschichte einzigartigen Kraftakt wird Beethoven in seinen ersten zwanzig Jahren in Wien,

aufbauend auf den Errungenschaften von Haydn und Mozart, die Musik revolutionieren wie kein Musiker vor ihm. Er wird Sonate, Sinfonie und Instrumentalkonzert die endgültige Form verleihen, die Orchesterbesetzung, die bei Mozart und Haydn oft noch den Gegebenheiten angepaßt variierte, standardisieren, in der Sinfonie das Menuett durch das Scherzo ersetzen und Thematik, Harmonik und Form, insbesondere in der Durchführung, die Dimensionen verleihen, die wir heute als klassisch betrachten.

Alle Komponisten, die nach Beethoven Sinfonien, Streichquartette oder Klavierkonzerte schreiben, und das geht bis zu Mahler, Prokofjew und Schostakowitsch im 20. Jahrhundert, werden auf Beethovens Innovationen und Errungenschaften aufbauen. Bis heute ist Beethoven bei Klaviersonaten, Streichquartetten und Sinfonien das Maß aller Dinge.

Beethoven war und ist stets vom Mythos des Heroischen umgeben. Er gilt als „einsamer Revolutionär“ (Jan Caeyers), als Titan, der es ganz allein auf sich genommen hat, die Musik der Welt der Adelshöfe, der noch Bach, Haydn und Mozart angehörten, zu entreißen und sie hinzuführen in eine Welt der bürgerlichen Freiheit, die Aufklärung und Französische Revolution vorbereitet hatten. So ist er auch auf fast allen Bildern zu sehen, die in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind: mit wirren Haaren, vorgestrecktem Kinn und festem Blick, der dem Betrachter sagt: das ist einer, der es ernst meint. Wie bei den meisten Trivialmythen ist auch da was Wahres dran: Beethoven war, wie vor ihm Michelangelo und nach ihm Wagner und Picasso, ein Mensch, der es sich und anderen nicht leichtgemacht hat – wovon die große Kunst profitiert hat.

Das fängt damit an, daß Beethoven seine Werke einem Körper abgetrotzt hat, der im Lauf von Jahrzehnten kränker, hinfälliger und kaputter wurde. Als junger Mann war Beethoven kräftig, gesund und belastbar. So hat er bereits als Zwölfjähriger seinen Lehrer Neefe als Hoforganist vertreten, als Teenager im Orchester Bratsche gespielt, und als der Vater sich immer mehr dem Trunk ergab seine beiden jüngeren Brüder „kleiden, nähren und unterrichten lassen“. 

Aber bereits mit Mitte Zwanzig (1796) meldeten sich erste Anzeichen eines Gehörleidens, das Beethoven nach und nach ertauben ließ. In einem nie abgesandten Brief an seine beiden Brüder, dem sogenannten „Heiligenstädter Testament“, schreibt Beethoven bereits 1802: „Aber welche Demüthigung, wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten singen hörte, und ich auch nichts hörte.“ 

Zwei Jahre später kann Beethoven die Bläser bei den Proben zur Uraufführung der „Eroica“ nicht mehr hören, 1814 kann er den Klavierpart in seinem Klaviertrio Nr. 7 in B-Dur, op. 97 („Erzherzog-Trio“) nur mit Schwierigkeiten spielen, weil er Violine und Cello nicht mehr hört; seit 1817 kann Beethoven überhaupt keine Musik mehr hören, Besucher müssen nun schreien, um sich mit ihm zu verständigen, oder was sie sagen wollen in die Konversationshefte kritzeln, die Beethoven nun ständig mit sich herumträgt.

Mindestens genauso belastend wie seine Taubheit ist für Beethoven jedoch eine langwierige Darmerkrankung, die moderne Mediziner entweder als Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn diagnostizieren. Beethoven leidet daran seit 1812, das ist das Jahr, in dem die Beziehung zur Liebe seines Lebens, der von ihm so genannten „unsterblichen Geliebten“, endgültig scheitert, weshalb manche Biographen Beethovens Leiden für psychosomatisch halten. In Beethovens Briefen ist nun immer wieder von „Gedärmentzündung“, „Entzündungskatarrah“ und „Abdominalbeschwerden“ und später einer Gelbsucht die Rede, die bereits die Leberzirrhose ankündigt, an der der Komponist schließlich sterben wird.

Als wäre das alles noch nicht genug, schlagen Beethovens sämtliche Versuche, eine Frau zu finden, fehl, dabei fehlt es ihm nicht an Gelegenheit: Als einer der ersten Klaviervirtuosen seiner Zeit ist Beethoven ein gefragter Klavierlehrer, insbesondere in Adelskreisen. Also verliebt er sich mit schöner Regelmäßigkeit in seine adeligen Klavierschülerinnen, die ihm ebenso regelmäßig einen Korb geben, worauf ihnen eine Klaviersonate gewidmet wird, worauf sie aus Beethovens Leben wieder verschwinden.

Anders läuft das bei Josephine Gräfin Deym, geborene von Brunsvik (1779–1821). Die wird 1799 von ihrer Mutter aus dem heimatlichen Budapest in die Hauptstadt des Habsburgerreiches gebracht, um einen geeigneten Mann zu finden. Um ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt zu erhöhen, sind Klavierstunden unerläßlich, und da kommt der junge Starpianist, der seit einigen Jahren in Wien für Aussehen sorgte, genau richtig. Im Gegensatz zu Beethovens anderen Liebeleien mit Klavierschülerinnen war dieses Mal alles anders: Josephine heiratete zwar pflichtschuldig den reichen Grafen Deym, verliebte sich jedoch ernsthaft in Beethoven und trug diese Liebe auch nach Jahren noch in ihrem Herzen, als sie selber Mutter dreier Kinder, inzwischen Witwe geworden und mit einem estnischen Baron in zweiter Ehe verheiratet war. 

Beethoven widmet Josephine zwar noch ein Liebeslied und komponiert sein schönes Andante Favori für sie, aber innerlich hatte er sich damit abgefunden, daß das mit Josephine nichts werden wird, als etwas Außergewöhnliches passiert: Am 3. Juli 1812 macht Beethoven auf einer Bäderreise ins böhmische Teplitz in Prag Station und trifft dort auf dem Weg zum Abendessen Josephine, schläft mit ihr und zeugt eventuell sogar eine Tochter, von der er allerdings nie etwas wissen wird.

In der Nacht vom 6. auf den 7. Juli 1812 schreibt Beethoven einen leidenschaftlichen Brief an Josephine, in dem er sie als „Mein Engel, mein alles, mein Ich“ und „unsterbliche Geliebte“ anredet und ihr mitteilt: „Leben kann ich entweder nur ganz mit dir oder gar nicht.“ Es ist nicht sicher, ob Beethoven diesen Brief jemals abgeschickt und Josephine ihn überhaupt erhalten hat – sicher ist nur, daß Josephine, die von ihrem zweiten Mann getrennt lebte, Beethoven auf Druck ihrer Familie erneut zurückgewiesen hat, was den Komponisten tief verletzte. Und für immer veränderte. 

In den 15 Jahren vor dem Brief an die unsterbliche Geliebte war Beethoven mit unfaßbarer Produktivität und stupendem Einfallsreichtum gegen alle Grenzen der musikalischen Tradition angerannt. In einer Oper (Fidelio), einem Oratorium, einer Messe, drei Bühnenmusiken, sieben Sinfonien, fünf Instrumentalkonzerten, sieben Klaviersonaten und fünf Streichquartetten hatte er die musikalische Tradition von Haydn und Mozart auf ihren Höhepunkt geführt und gleichzeitig überwunden. 

Nach dem Bruch mit Josephine ist alles anders. Beethoven komponiert viel weniger als zuvor, vernachlässigt sein Äußeres, trinkt immer mehr Wein, feilscht mit seinen Verlegern hart und gewieft um hohe Honorare und führt einen juristischen Kleinkrieg um die Vormundschaft seines Neffen, den er schlußendlich verliert, weil der junge Mann den berühmten Onkel nicht mag, wiederholt ausreißt und sogar einen Selbstmordversuch unternimmt.

In den Werken seiner letzten Schaffensperiode (1813 bis 1827) entwickelt Beethoven einen persönlichen Spätstil von kompromißloser, mitunter schroffer Eigenwilligkeit, der seine Zeitgenossen befremdet und oft ratlos zurückläßt, gleichzeitig aber bis in das 20. Jahrhundert vorausweist. In dieser Zeit entstehen die ausgreifende „Missa Solemnis“; die mächtige Hammerklaviersonate, deren technische Anforderungen und das rasend schnelle Tempo des ersten Satzes Pianisten bis heute Probleme bereiten, und die späten Streichquartette, sublimierte, verdichtete Musik von philosophischer Tiefe, wie es sie nicht einmal bei Bach gibt.

Als Beethoven am späten Nachmittag des 26. März 1827 nach zwei stoisch ertragenen, aber vergeblichen Leberpunktionen stirbt, ist der musikalischen Welt klar, daß hier ein Genie die Welt verlassen hat, wie es nur sehr wenige gegeben hat. Während Karl Marx der Welt Haß, Hader und hundert Jahre Massenmord und Vernichtung hinterließ, hat Beethoven der Menschheit viele ihrer größten musikalischen Meisterwerke geschenkt. Und den Glauben an Schönheit, Humanität und die Überwindung von Schmerz, Krankheit und Tod.