© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Blutdonnerstag an der Leninwerft
Am 17. Dezember 1970 starben in Danzig polnische Arbeiter im Kugelhagel kommunistischer Milizen
Ludwig Witzani

Kein Politiker des Ostblocks hat jemals eine solche Popularität genossen wie Wladyslaw Gomulka bei seinem Amtsantritt als erster Sekretär der kommunistischen Partei Polens. Als er im Herbst 1956 vom Warschauer Kulturpalast zu einhunderttausend Anhängern sprach, schien eine neue Zeit angebrochen zu sein. Als Kommunist der ersten Stunde,  im Stalinismus zeitweise inhaftiert, stand er wie kein zweiter für einen nationalpolnischen Kommunismus in vorsichtiger, kalkulierter Abgrenzung zur Sowjet-union. Sofort nach seinem Machtantritt stoppte er die Kollektivierung der Landwirtschaft und vereinbarte eine Art Burgfrieden mit der katholischen Kirche. In den ersten drei Jahren nach 1956 stieg das Durchschnittseinkommen in Polen um über 20 Prozent, und die Par-tei konnte sich vor Aufnahmeanträgen kaum retten.

Ziemlich genau 14 Jahre nach diesem hoffnungsvollen Beginn stand der kommunistische Parteichef Gomulka vor den Trümmern seiner Politik. Am 17. Dezember 1970 ließ er die protestierenden Arbeiter der Danziger Leninwerft (bis 1945 Schichauwerft) von Milizen und der Armee zusammenschießen. Dieses Massaker, das als „Danziger Blutdonnerstag“ in die Geschichte eingegangen ist, markiert den Anfang vom langen Ende der polnischen Diktatur. 

Dem Danziger Arbeiteraufstand vorangegangen war eine jahrelange Phase zunehmender innenpolitischer Repression und wirtschaftlichen Abstiegs. Sie fand ihren Höhepunkt in der Anti- Zionismus-Kampagne des Jahres 1968, während der eine Welle des Antisemitismus durch Polen schwappte und Tausende jüdischer Intellektueller, Parteifunktionäre und Offiziere ihre Posten verloren und Polen verlassen mußten. 

An der notorischen Unterversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln änderte das aber nichts. Die in Polen erlaubte private Landwirtschaft erwirtschafte zwar bessere Erträge als die Kolchosen, basierte aber auf winzigen, wenig rentablen Höfen, die den gestiegenen Bedarf der Bevölkerung nach Nahrungsmitteln nicht befriedigen konnten. Während die Lebensmittelsubventionen den Staatshaushalt ruinierten, führten Preisverzerrung, Unterproduktion und überschießende Nachfrage zu endlosen Warteschlangen vor den Konsumgenossenschaften in den polnischen Städten.  

Polen stand am Rande eines Bürgerkriegs

Die Situation eskalierte, als die Partei im Dezember 1970 die lange erwarteten Preiserhöhungen verkündete. Fleisch sollte um fast 20 Prozent teurer werden, Schmalz sogar um ein ganzes Drittel. Mehl und Fisch sollten annähernd 20 Prozent, Marmelade sogar bis zu 40 Prozent mehr kosten. Zugleich wurde angekündigt, daß die Heizölpreise zum Jahreswechsel um ein Viertel angehoben werden müßten. Außerdem war vorgesehen, ab dem 1. Januar die Sozialmieten flächendeckend zu erhöhen. Da der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel am durchschnittlichen polnischen Haushaltsbudget etwa 40 Prozent betrug, bedeuteten diese Erhöhungen für viele Polen eine massive Absenkung ihres Lebensstandards.   

Sofort brachen im ganzen Land Unruhen aus. Es kam zu Handgreiflichkeiten mit den Ordnungskräften, die hysterisch über die Menge schossen, Kriminelle plünderten im Schatten des Aufruhrs die Geschäfte, und an Parteizentralen und Bahnhöfen wurde Feuer gelegt. Die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten, als auch die Arbeiter der Danziger Leninwerft sich an die Spitze der Proteste stellten. 

Daß die Empörung über die Preiserhöhungen die knapp 17.000 Werftarbeiter in besonderer Weise berührte, war kein Zufall. Einerseits galten sie als gesellschaftliche Avantgarde, die mit ihren Schiffen die dringend benötigten Devisen erwirtschafteten, andererseits war ihre Stimmung schlecht, weil versprochene Lohnerhöhungen ausgeblieben waren. Daß die Schiffe, die die Werftarbeiter produzierten, weit unter Wert an die UdSSR geliefert werden mußten, verstärkte den allgemeinen Verdruß. Obwohl Parteichef Gomulka mehrfach gegenüber dem sowjetischen KP-Chef Leonid Breschnew die unfairen Handelskonditionen zur Sprache brachte,  verweigerten die Sowjets jedes Entgegenkommen. 

In dieser zugespitzten Situation agierte die Partei ungeschickt und uneinheitlich. Während Vizepremier Stanislaw Kociolek am 15. Dezember vor tausenden Arbeitern der Leninwerft die Preiserhöhungen verteidigte und gnadenlos ausgebuht wurde, organisierte der Gomulka-Vertraute Zenon Kliszko bereits den Transport zuverlässiger Truppen nach Danzig. Nach heftigen Diskussionen im Politbüro genehmigte Parteichef Gomulka schließlich auch den Schußwaffengebrauch zur Niederschlagung der Proteste.     

So kam es fast zwangsläufig zur Katastrophe. In den Morgenstunden des 17. Dezember 1970 trafen Tausende Arbeiter, die dem Aufruf von Vizepremier Kocielek zur Wiederaufnahme der Arbeit gefolgt waren, auf die schwerbewaffneten Soldaten und Milizen Kliszkos, die den Auftrag hatten, eine Besetzung der Werft zu verhindern. Als die Masse der Arbeiter, halb entschlossen, halb geschoben, gegen das Werkstor vorrückte, schossen die Ordnungskräfte gezielt in die Menge und töteten nach offiziellen Angaben 45 Menschen, wahrscheinlich aber eine erheblich höhere, dreistellige Zahl. 

Die Nachricht von diesem Danziger Blutdonnerstag versetzte die Polen in Schockstarre. Einen Tag lang  stand das Land am Rand des Bürgerkrieges, dann entschloß sich die Partei, den Prozeß der Eskalation abzubrechen. In einer außerordentlichen Sitzung des Politbüros wurde der erste Sekretär Gomulka am 19. Dezember 1970 abgesetzt und durch Edward Gierek, den populären Parteisekretär des oberschlesischen Kohlereviers, ersetzt. Die Preiserhöhungen wurden allerdings erst im Februar des nächsten Jahres nach dem großen Textilarbeiterstreik von Lodz zurückgenommen.

Widerstandsgeist führte zur Gründung der Solidarnosc

Besonders auf der Danziger Leninwerft konnte der Widerstandsgeist nicht gebrochen werden, die Belegschaft galt weiterhin als aufmüpfig, Streikführer wie die Kranfahrerin Anna Walentynowicz genossen auch nach 1970 hohe Akzeptanz. Um 1975 stieß auch der Elektriker Lech Walesa zum Streikkomitee. Walentynowicz und Walesa gehörten dann 1980 auch zu den Gründungsmitgliedern der unabhängigen Arbeitergewerkschaft Solidarnosc.

Die Errichtung des monumentalen Denkmals direkt vor dem Tor der Leninwerft für die Opfer des Danziger Blutdonnerstags am 16. Dezember 1980 mit begeisterter Anteilnahme der Bevölkerung, einem Grußwort Papst Johannes Pauls II. und unter zähneknirschender Anwesenheit kommunistischer Funktionäre war auch eine erste Machtprobe der Arbeiteropposition. Die Agonie des Kommunismus trat in ihr letztes Stadium, auch wenn es noch einmal zehn Jahre dauern sollte, bis Polen endlich die sozialistischen Bürden abschütteln konnte.