© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/20 / 11. Dezember 2020

Der Große Vorsitzende denkt und lenkt
Bernd Wagner befördert Mao Tse-tung zum ewigen Leben und liefert damit den Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart
Erik Lommatzsch

Noch immer ist die irrige Auffassung verbreitet, Mao Tse-tung sei im September 1976 in Peking verstorben. Bernd Wagner gebührt das Verdienst, durch Herausgabe, Übersetzung und Kommentierung der „geheimen Memoiren“ des Großen Vorsitzenden die notwendige Korrektur vorgenommen zu haben. Ein Zufall wollte es, daß der Berliner Schriftsteller beim Angeln in der Spree via Flaschenpost auf das sensationelle Manuskript gestoßen ist. 

Politische Steuerung im Sinne der Kulturrevolution

Mao ist mitnichten tot. Hoch oben in den Bergen über seinem Geburtsort und umgeben von 72 Affen genießt er seit 1966 das ewige Leben. Für die Öffentlichkeit war er damals durch einen Doppelgänger ersetzt worden. Mittels Fernsehbildschirm verfolgt er den Lauf der Welt und widmet sich „der Beantwortung aller Fragen“, die ihm „die Weltgeschichte“ stellt. Durch den Verzehr einer besonderen Art von Zwiebeln eines taoistischen Priesters ist er in der Lage, etwa Inhaber von Staatsämtern oder diejenigen, die er in derartige Positionen zu bringen gedenkt, herbeizuzitieren.

Laut Klappentext des Buches, welches in der „Exil“-Reihe der von Susanne Dagen verantworteten Dresdner Edition Buchhaus Loschwitz erschienen ist, handelt es sich – lediglich – um eine „bittere Satire“. Ereignisse und das Handeln politischer Entscheidungsträger an sich sind bekannt, allein der Sinn blieb bislang oftmals verborgen. Schlüssel zum Verständnis ist die Tatsache, daß Mao über vielem – nur wenige Politiker können sich seinem Einfluß entziehen – gestaltend wacht. Insofern wirken die „geheimen Memoiren“ hochgradig real. 

Viel ist von Mao zu lernen. So gilt es, „vier alte Übel“ zu bekämpfen: „alte Gewohnheiten, alte Ideen, alte Sitten, alte Gebräuche“. Auf dem Weg zu einer Welt nach seinen Vorstellungen, auf der Linie der „Kulturrevolution“, stiftet Mao Unruhe und destabilisiert. Das Sowjetsystem, dessen Unvollkommenheiten er frühzeitig erkannte, hat er zum Einsturz gebracht. Im Wissen um das Scheitern empfahl er Michail Gorbatschow eine Anti-Alkohol-Kampagne. Der KPdSU-Generalsekretär setzte auf die Selbstverantwortung der Bürger. Ein Fehler, denn wer das Volk nicht als Masse wahrnehmen könne, habe in der Politik nichts zu suchen, so Mao. Um der „verwirrenden Vielfalt“ Europas zu begegnen, die „schleunigst eliminiert gehört“, installierte er Silvio Berlusconi als italienischen Staatschef und förderte Nicolas Sarkozy in Frankreich. 

Daß den Serben in den Jugosla-wienkriegen die Aggressorenrolle zugeschoben wurde, geht ebenfalls auf Mao zurück, der diesbezüglich von Rudolf Scharping wertvolle Unterstützung erfuhr. Und US-Präsident George W. Bush überzeugte der Große Vorsitzende davon, daß die „sogenannte Kultur“ der Glückseligkeit der Menschen im Weg stehe.

Angela Merkels politisches Talent wurde schon in ihrer Studienzeit durch Mao entdeckt. Das „Nichts“ ausstrahlend, das zugleich „Alles“ ist, hätte sie, so war ihm bewußt, immer Mehrheiten hinter sich. Die deutsche Bevölkerung würde darauf warten, sich „einer neuen, wärmenden Ideologie“ hinzugeben. Auch das Geheimnis der Raute wird geklärt. Mit dieser Geste signalisiert sie Mao, daß sie seinen Rat braucht. Die „Abwesenheit sie behindernder Prinzipien“ ist von Vorteil. Zu einer Zeit, als Merkel Deutschland bereits in „einen großen Kindergarten“ verwandelt hatte, in dem „Querulanten mit altbürgerlichem Gedankengut in die rechte Strafecke“ gestellt wurden, gab er ihr in einer wichtigen Angelegenheit die Formel „Wir schaffen das!“ mit auf den Weg. 

Allerdings geriet Maos Zukunftsperspektive, etwa mit der Spaltung der USA oder dem Kalifat Köln, ins Stocken. Ein neuer „Großer Sprung“ war vonnöten. Den Leser wird es nun nur noch wenig überraschen, wer für die „Corona-Krise“ verantwortlich zeichnet. Ebenso, daß die hysterischen Reaktionen bar jeder Verhältnismäßigkeit den Zielen des Großen Vorsitzenden zugute kommen. 

Nach der Lektüre des Buches vermag man sich kaum noch vorzustellen, daß es sich bei den Ursachen der seit Jahren immer wahnwitzigeren Entwicklungen, um etwas anderes handeln könnte als um eine Steuerung durch den ewig lebenden Mao Tse-tung. 

Bernd Wagner: Mao und die 72 Affen oder Die geheimen Memoiren des Ewigen Vorsitzenden samt einem Interview über die Corona-Pandämonie. Edition Buchhaus Loschwitz, Dresden 2020, broschiert, 264 Seiten, 19 Euro